Wir, hinter dem Horizont
Mondaufgang
Das Schicksal hat sie zusammengeführt. In eine trügerische Idylle. Sie wiegen sich in Sicherheit, doch der allmächtige Schöpfer hat andere Pläne. Der erste Angriff wird sie unvorbereitet treffen, ihre überraschten, aufgerissenen Münder mit den rauen, unhygienischen Pfählen des Unvermeidbaren durchbohren. Eine erregende Vorstellung. In lüstern melodischem Kratzen lässt sie das Messer mit der 14-Zentimeter-Edelstahlklinge über das grobfasrige Papier fahren. Die Farben sind frisch aufgetragen, es liegt der feuchte Schimmer entfernter Sehnsüchte über der unvollständigen Szenerie. Ein entscheidendes Detail fehlt noch. In Gedanken beschwört sie den faulsten Wettergott, der tagaus tagein die Sonne im Paradies scheinen lässt. Es wird Zeit, dass sich das Blatt wendet, doch dafür braucht es ein Opfer.
Sie krempelt die eine Nuance zu langen Ärmel ihrer weißen Bluse bis über die Ellbogen zurück, zeigt mit der Messerspitze in Richtung Zimmerdecke. Zwei schnelle Schnitte, dann spritzt die rote Farbe über ihr fades Meisterwerk. Sie war ohnehin der Meinung, den Charakteren im Plot fehle es an Profil. Die neue Flüssigkeit verwischt ihre dummen Gesichter, löscht ihre Fürbitten in Richtung Himmel gnadenlos aus, läuft in schmalen Bändern auf das helle Holz der Staffelei, sickert in den Boden. Das ist der Neuanfang, denkt sie. Der Übergang. Die Erlösung. Sie fühlt sich müde und ist zugleich maximal erregt. Das ist die Kunst. Sie ist Kunst. Sie kann es kaum fassen. Das Messer rutscht ihr aus der Hand, sie sinkt auf den Boden, fängt sich auf einem Knie ab, stützt ihre gefalteten Hände auf das zweite. Perfektion ist keine vollendete Kunst. Perfektion ist die alles in den Schatten stellende Sinnfrage. Das Warum. Im raschen Fallen ihres Blutdrucks und der ersterbenden Kontraktionen ihres Herzmuskels wähnt sie sich der Antwort näher denn je. Der Tribut ist gezollt. Nur allein kann sie den Weg nicht gehen. Ja ohne Mitstreiter würde sie keinen Sinn in der Welt erkennen, selbst wenn er als heilige Formel in gigantischen Lettern in die Mondoberfläche geritzt wäre. Wenigstens hat sie eine Ahnung, wo sie auf potentiell geeignete Mitstreiter treffen kann. Das dumpfe Pochen in ihrem Schädel sagt es ihr ganz deutlich: „Eins, zwei, drei, vier Zimmer sind noch frei. Vier, fünf, sechs, die Angst ist ein Reflex. Sieben, acht, neun, du darfst den Sprung nicht scheu’n. Wirst du jetzt nicht ehrlich sein, mit letzter Kraft auf einem Bein, wirst du es lebenslang bereu’n.“
Mit Erleichterung begrüßt sie still den alternativen Weg, der in sprühendem Glitzerregen über der Blutlache vor ihrem linken Knie aufblitzt. Kunst und Erkenntnis werden sie begleiten, egal welche Abzweigungen sie in ihrem Leben nehmen mag. Hinter dem Horizont wird sie Anerkennung finden für das, was sie tat. Und im besten Fall ist der Weg dort nicht zu Ende. Sie schließt die Augen und ergibt sich dem rhythmischen Pochen in ihrem fast blutleeren Schädel. Es ist dunkel. Der Himmel ist klar. Das Sternenlicht bricht sich in Millionen von Regentropfen, die in einer warmen Dusche auf sie herabstürzen und das Blut aus ihrer weißen Bluse waschen. Es ist ein kühles und zugleich unvoreingenommenes Licht, welches die beschwerliche Reise hierher geschafft hat und die große, einsame Blockhütte wie ein schwarzes Schloss in der lauen Nacht erstrahlen lässt.
Neunmal schlagen ihre Fingerknöchel hintereinander auf das dunkelbraune, fast schwarze Holz der massiven Eingangstür. Keine Reaktion. Das Haus schläft tief und fest. Sie sehnt sich ebenfalls nach etwas Ruhe und Wärme und drückt probehalber die Türklinke nach unten. Seufzend schwingt ihr das düstere Holz entgegen und mit ihm ein Schwung nicht unangenehmer Heimlichkeit. Nach kurzem Zögern betritt sie den kurzen, in einen gleichmäßigen, schwarzen Schatten gehüllten Flur, öffnet eine weitere Tür und findet sich in einem geräumigen, von einer einzelnen Kerze beleuchteten Zimmer, welche mittig auf dem Boden steht, wieder. Das zarte Flämmchen zittert und biegt sich in die Strömung das Zimmer verlassender Luft. Unmittelbar dahinter ein ebenso zartes Gesicht, lange blonde Haare. Sie befindet sich in dem Wohnzimmer eines Engels.
„Wer bist du? Hier hat es noch nie geregnet. Zum Glück bin ich als einzige wach geworden, sonst würde umgehend die Panik ausbrechen.“, spricht der Engel zu ihr.
„Ich bin Lejhana.“, antwortet sie. „Und wäre das da draußen gewöhnlicher Regen, würde eine schwere Wolkendecke den Himmel verhängen. Stattdessen ist die Nacht klar wie eh und je; es sind die Sterne, welche eure Welt beweinen. Entschuldige, wie darf ich dich nennen?“
„Mein Name ist Aaina. Warum sollten die Sterne das tun? Und wie geht das überhaupt, Niederschlag ohne Wolken?“
„Ja… das Wie. Weißt du es, wird es unwillkürlich zur Selbstverständlichkeit. Wenn nicht, dann ist es ein Rätsel, doch bleibt die Konsequenz die Gleiche. Offensichtlich haben die Sterne Mitleid mit euch.“
Darüber muss der Engel nachdenken. In dieser Zeit schließt sie hinter sich die Wohnzimmertür, durchwandert in einem Halbkreis das Zimmer und lässt sich im Schneidersitz gegenüber ihrer Gesprächspartnerin auf den blanken Holzdielen nieder. Schlussendlich rückt ebenfalls Aaina näher an die Kerze heran und verlagert ihren Oberkörper leicht nach vorne. Nun befindet sich ihr ganzer Körper im Lichtkegel des orangeroten Feuers. Ihre Schultergelenke treten deutlich unter dem hauchdünnen Nachthemd hervor. Sie folgt mit dem Blick den Schlüsselbeinen an den schlanken Hals und den Saum ihres Rundhalsausschnitts hinunter, über die deutliche Wölbung ihrer Brüste, von wo aus der leichte Stoff in langen Falten direkt in den Schoß fällt und gerade so den Ansatz ihrer beiden Oberschenkel bedeckt.
„Ich will kein Mitleid.“, sagt sie mit ernster Miene. „Ich will ganz einfach ich sein. Wenn jemandem nicht passt, wer ich bin oder wie ich aussehe, dann soll er sich von mir fernhalten. Das ist mein Recht. Natürlich ging es mir schlecht, weil dieses Recht missachtet wurde. Doch ich hätte damals Hilfe gebraucht, von mir aus einen empathischen Himmelskörper. Damals habe ich gelitten. Egal wie ehrlich das Mitleid ist, jetzt bringt es mich nicht weiter und deshalb ist es unangebracht.“
Ihre Haut muss unglaublich weich und sensibel sein, schießt es ihr durch den Kopf. Das Bild bräuchte bloß noch einen Finger, der von liebevoller Hand geführt unter das Hemdchen gleitet und in kleinen Kreisen von der Taille abwärts zwei rote Flecken auf die Wangen des Mädchens zaubert.
„Das verstehe ich.“, versucht sie es erneut, während sie innerlich alles daran setzt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Auf der anderen Seite könnte sich das Mitleid auch darauf beziehen, dass du einen Ausweg für dein Leiden gesucht hast und hier gestrandet bist. Eine junge, attraktive Frau wie du, fern ab von jeder Stadt, jeden Nachtlebens, jedem… Abenteuer. Das hat eine gewisse Tragik.“
Langsam beugt sich Aaina über die Kerzenflamme, sodass sich ihr Nachthemd hinter ihr einige Zentimeter vom Boden abhebt. In ihren Augen steht die geweckte Neugierde ebenso wie der intensive Blick des Durchschauens. Sie sind sich so nah, dass sie den Arm ausstrecken und sie berühren könnte. Im nächsten Augenblick sind eilige Schritte auf der Steintreppe zu hören. Die Tür schwingt auf und ein junger Mann, der personifizierte Anstand, stürzt ins Zimmer: „Aaina, hast du das gesehen, es regnet bei freiem Himmel!“ Fragend schaut er sie an.
„Ja, Naci, das ist Lejhana. Sie sagt, die Sterne weinen. Hast du das schon mal erlebt?“
„Nein, furchtbar lang war ich auch nicht hier, bevor du kamst. Vier Wochen wohne ich nun schon im Haus, aber geregnet hat es noch nie…“
„Das ist kein Regen.“, fällt sie ihm ins Wort. „Das ist das Rauschen der Fügung. Die Musik, die niemand hört, weil alle mit sich selbst beschäftigt sind. Jeder Tropfen für sich folgt der Schwerkraft in die Tiefe. Sein Ziel ist der Ozean, ein Leben unter Seinesgleichen. Doch wenn er aufschlägt, bleibt er als winzige Pfütze in der trostlosen Ebene liegen. Erst wenn er sich mit anderen Tropfen verbündet, können sie sich als Einheit fortbewegen und schließlich als reißender Strom das Meer erreichen.“
„Ich glaube, ich zeige dir jetzt am besten dein Zimmer.“, bemerkt Naci mit ironischem Unterton. In aller Bescheidenheit ist er der wahre Held ihrer Geschichte, deshalb widerspricht sie nicht, folgt ihm in den ersten Stock, zieht sich aus und legt sich in das ihr zugewiesene Bett. Tatsächlich macht sie jedoch bis zum Morgengrauen kein Auge zu. Lauscht dem beständigen Trommeln der Regentropfen aufs Dach, welches man allerdings nur wahrnimmt, wenn man weiß, dass es da ist. Und kaum trifft der erste Sonnenstrahl auf den Dachgiebel, erlischt das Trommeln und allein der vollgesogene Erdboden wird für die nächsten Stunden an das denkwürdige Naturschauspiel der Nacht erinnern.
Sie wirft die Beine aus dem Bett und befreit sich umständlich von der feuchten Bettdecke, die sie noch nicht loslassen möchte. Auch ihr verschwitztes Nachthemd streift sie ab, geht ans Fenster und stößt schwungvoll die schweren Fensterläden ihres Zimmers nach außen. Beim Anblick der blühenden Schwertlilien, welche vor ihrem Fenster gepflanzt wurden, muss sie schmunzeln. Van Gogh lässt herzlich grüßen. Als nächstes braucht sie eine kalte Dusche, aber ohne unterwegs auf schlaftrunkene Weltverbesserer zu treffen. Kurz entschlossen und halbnackt klettert sie aus dem Fenster, hält sich an dem Eisengitter fest, in dem die Blumenkästen stehen und lässt ihre Füße einen guten Meter über der Erde baumeln, bevor sie loslässt und sich auf dem nassen Rasen abfängt. Sie folgt dem geräuschvollen Plätschern einmal ums Haus herum hinter den Garten zur Quelle, legt sich dort in ganzer Länge in den Bachlauf und lässt das klare Wasser prickelnd ihr Gesicht umspülen. Danach wäscht sie sich ausgiebig, breitet ihre Sachen zum Trocknen aus und lässt sich auf den steinernen Stufen zwischen Quelle und Trauerweide nieder. Dort liegt sie für etwa eine halbe Stunde, träumt vor sich hin, bevor das rhythmische Knacken von Zweigen sie aus dem Halbschlaf reißt. Immerhin erschrickt der andere ebenso sehr über die unerwartete Begegnung.
„Oh, tut mir leid, ich habe dich nicht gehört, normalerweise bin ich morgens der erste hier. Aber ich kann auch warten.“
„Du kannst ruhig bleiben, ich bin fertig. Wäre nett, wenn du mir Gesellschaft leisten würdest.“, sagt sie zu dem fremden Mann, der sie angesprochen hat, ohne den Kopf anzuheben. Die Sonne steht mittlerweile so hoch, dass ihr Licht knapp über das Hausdach klettert und die Steine erwärmt, auf denen sie liegt. Kurz blinzelt sie, um den Mann zu betrachten, der sich ihr auf wenige Meter genähert und sich daraufhin der Quelle zugewandt hat.
„Ich heiße übrigens Jesko.“, stellt er sich vor. Er sieht gar nicht schlecht aus.
„Lejhana.“, antwortet sie einsilbig.
„Hat es in der Nacht geregnet? Sonst ist das Gras doch nicht so nass.“
„Es war eine besondere Nacht. Und sie hat euch – na ja, streng genommen jetzt uns – einen Schlüssel geschickt. Die Frage ist, ob wir ein passendes Schloss finden.“
„Ach, bist du auf der Seite von Clio? Wir sind Gefangene, bla bla bla… Vielleicht hat sie ja Recht, aber dann wohnen wir in einem verdammt schönen Gefängnis. Jemand wie du könnte locker der Tristesse des seichten Alltags die nötige Würze verleihen. Und dann, wer weiß, könnte ich hier sogar glücklich werden.“
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