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hintergrund

Laufen


Text/Abbildungen:
Jonathan Püttmann
Hochgeladen: 12.05.2020
Textart: Bericht
Kategorie: Ausdauersport
Länge: 1132 Wörter
Seite 1
A407

Laufen als Sport


Laufschuh in Flammen

Es ist vielleicht halb zwölf, als ich das Haus verlasse und zügig in Richtung Ortsausgang gehe. Normalerweise streife ich bloß ein wenig um die Häuser und kehre dann wieder um. Die übliche Runde um den Block. Heute will ich es ganz dunkel haben, die Laternen blenden mich und stören meine Gedanken. Es ist so warm, dass ich in kurzer Hose und T-Shirt laufen kann. Der Asphalt fühlt sich noch warm unter meinen nackten Füßen an, kleine Steinchen drücken sich in die Sohle und schmerzen an den wenigen Stellen, an denen sich noch keine Hornhaut gebildet hat. Barfuß laufen bedeutet Freiheit. Barfuß laufen bedeutet genau zu fühlen, wohin man läuft, aktiv auf eine gleichmäßige Abrollbewegung des Fußes zu achten. Wenn ich im Stockdunkeln durch den Wald gehe, kann ich anhand des erdigen, steinigen oder holzigen Untergrund erkennen, in welche Richtung ich mich orientieren muss und ob ich auf einem geraden Weg oder einer Kreuzung stehe. Manchmal bekommen meine Augen Unterstützung vom Mond, stets verlassen kann ich mich dagegen bei klarem Himmel auf die sogenannte Lichtverschmutzung, gestreutes Licht aus den umliegenden Dörfern und Städten, das noch 20 Kilometer weit zu sehen ist.
Heute scheint kein Mond. Ich wende mich von der Hauptstraße ab und betrete einen sandigen Feldweg in Richtung Waldrand. Mit jedem zweiten Schritt trete ich auf einen Tannenzapfen, schließlich setze ich meine Füße einen Meter weiter links auf das trockene Gras der angrenzenden Wiese. Plötzlich sehe ich einen kleinen Schatten vor mir und bleibe unwillkürlich stehen, verharre gänzlich in meiner Bewegung. Bewegt sich der Schatten? Kommt er von einem Tier, einer Pflanze oder bloß einer Unebenheit des Bodens. Es dauert mehr als 30 Sekunden, bis ich mir sicher bin: Keine zehn Meter vor mir steht ein etwa 80 Zentimeter großes Reh auf der Wiese. Und es hat offensichtlich noch nicht registriert, in welcher Gefahr es schwebt. Ich mache einen halben Schritt in die Richtung des Tiers. Keine Reaktion. Ich weiß, dass die Wiese an dieser Stelle nicht ganz harmlos ist. Oft genug habe ich die parallel zum Weg wachsenden Pflanzen mit ihren unscheinbaren, aber schmerzhaften Dornen gesehen. Ein falscher Tritt mit voller Belastung wäre mehr als unangenehm. Andererseits weiß ich, dass ich meiner Beute bereits nah genug bin, um einen Sprint zu wagen und dass jeder weitere Schritt das Risiko, vorzeitig entdeckt zu werden, exponentiell steigen lässt. Trotzdem: safety first.
Ein Schritt, nur noch dreißig Zentimeter weiter vortasten und ich weiß, ob unter mir Dornen wachsen oder nicht. Ich hebe meinen hinteren rechten Fuß vom Boden ab. Ziehe ihn lautlos nach vorne, verlagere das Gewicht auf den linken Vorfuß. Der Schatten vor mir hebt sich nach wie vor kaum merklich vom dunklen Hintergrund ab. Die Welt um mich herum ist ein einziges flimmerndes Grau, doch ich bin der Jäger – verlasse mich ganz auf meinen Instinkt. Dann ein Knistern. Ich weiß selbst, dass mein Auftreten zu laut war und im nächsten Moment sehe ich den Schatten einen weiten Satz nach hinten machen. Ich renne ihm nach. Tatsächlich hätte ich mir den letzten Schritt sparen können, der Untergrund wäre sicher gewesen. Nun versuche ich mein bestes, doch näher als drei Meter komme ich nicht mehr heran. Nach zirka 50 Metern bleibe ich mit klopfendem Herzen stehen und sehe dem Reh nach, wie es panisch im schwarzen Unterholz des Waldes verschwindet. Wäre ich sofort losgesprintet, wäre der Überraschungsmoment noch auf meiner Seite gewesen. So habe ich mehr reagiert als agiert. Doch was hätte ich gemacht, wäre das Reh tatsächlich in meine Reichweite gelangt? Wäre ich fähig ein Tier zu töten, nur um des Instinktes Willen? Diese Fragen gingen mir wochenlang nicht aus dem Kopf. Ein halbes Jahr später habe ich mit dem Laufsport begonnen.

Mit der Entwicklung des aufrechten Gangs gelang dem Menschen vor mehreren Millionen Jahren die perfekte Umstellung vom kletternden Baumbewohner zum bodenlebenden Langstreckenläufer. Dabei dienen unsere langen Beine nicht nur der reinen Fortbewegung von A nach B – Laufen ermöglicht eine ganze Reihe von Bewegungsmöglichkeiten. Ob bei der Jagd, Flucht, Völkerwanderung oder Kultur in Form von Tänzen. Später nutzte, wer es sich leisten konnte, den Spaziergang als Inspiration und Erholung. Denn mit der zunehmenden Festigung der Gesellschaft in hierarchischen Strukturen erübrigte sich für einen Teil der Menschen die Notwendigkeit der Bewegung. Erst im letzten Jahrhundert hat sich das Laufen als Volkssport durchgesetzt und ist seitdem nicht mehr aus unserer Kultur wegzudenken.
Weltweit laufen Menschen, um fit zu bleiben, abzunehmen oder ihre sportlichen Ziele zu erreichen. Dabei täuschen uns Musik-Playlisten, Pulsuhren, GPS-Tracker und Analysesoftware vor, einem zivilisierten Zeitvertreib nachzugehen, der nebenbei gut für unsere Gesundheit ist. Teures Schuhwerk soll die Gelenke schonen und gleichzeitig mehr Vortrieb verleihen und dabei jeglicher Form der Pronation entgegenwirken. Die Lauftechnik ist seit Anbeginn der Zeit jedoch gleich geblieben. Selbst wer noch nie in seinem Leben fünf Kilometer am Stück gerannt ist, braucht nur die Schuhe ausziehen und langsam über einen weichen Waldweg joggen. In der Regel weiß dann der Körper von allein was zu tun ist.
Ich habe mein Lauftraining noch nie an Puls, Schrittfrequenz oder Beschleunigungssensoren festgemacht. Ich ziehe Schuhe an, weil kaum ein Weg zum Barfußlaufen ausgelegt und die Verletzungsgefahr demnach viel zu hoch ist. Darüber hinaus stoppe ich die Zeit und messe online die Gesamtdistanz meiner Strecken. Ansonsten höre ich auf mein Gefühl und besinne mich auf die Ursprünglichkeit des Laufens. Wenn im Winter Schnee liegt und ich ganz allein im Wald bin, denke ich manchmal, dass im nächsten Moment ein Sibirischer Tiger oder Moschusochse meinen Weg kreuzen könnte. Sechs Monate später assoziiere ich die Landschaft höchstens noch mit der afrikanischen Savanne. Dem Ort, an welchem der Mensch einst das Laufen erlernte. Wie kein anderer Sport verbindet es uns mit unserer Geschichte und den grundlegenden Trieben des Lebens. Natürlich renne ich nicht täglich dem erstbesten Wildschwein hinterher mit der Intention, es zuhause auf den Grill zu packen. Andererseits beschreibt das Wort Hobby nicht ansatzweise, was ich bei diesem Sport empfinde. Die Fortschritte werden von Jahr zu Jahr kleiner und ich kann nicht einmal behaupten, dass mir das Training ausnahmslos Spaß macht. Der Grund, warum ich viermal die Woche meine Arbeit unterbreche und 60 Minuten lang alles dafür tue, dass mich mein Körper hasst, ist folgender: Laufen mag inspirierend, gesund und befreiend sein, doch für mich ist es überlebenswichtig. Wie abhängig ich davon bin, merke ich jedes Mal, wenn ich wider besseren Wissens eine oder zwei Trainingseinheiten aussetze. Am ersten Tag ist es noch ganz angenehm der Anstrengung zu entfliehen. Am zweiten Tag kehrt der Bewegungsdrang bereits zurück und füttert das schlechte Gewissen. Spätestens beim nächsten Training aber kriegt man die Rechnung. Wer nicht weiß, wovon ich rede, sollte es einfach mal ausprobieren.
Im Folgenden möchte ich näher auf die Wahl der richtigen Strecken und Variationen des Lauftempos eingehen. Darunter fällt alles von Höhenprofil bis hin zu Wetterbedingungen, vom Atemrhythmus bis zum anaeroben Training.

Anmerkungen:

eigene Erfahrungen + Laufbibel