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Hinter dem Horizont


Text/Abbildungen:
Jonathan Püttmann
Geschrieben: Oktober 2019
Hochgeladen: 05.02.2020
Länge: 13294 Wörter
Genre: Märchen
Seite 1
A205

Wir, hinter dem Horizont


Hinter dem Horizont - Ortsschild

Manchmal scheint es im Leben nur noch einen letzten Ausweg zu geben. Es sind Schmerzen, Sehnsucht und Leere, die uns in die Ferne treiben. Eine Ferne ohne Ende. Wo wir in Ruhe gelassen werden. Wo wir Aufmerksamkeit bekommen. Gesehen werden. Der Wunsch, nicht mehr auf der Erde zu sein, erdrückt uns. Aber was wäre, wenn es in jeder Lebenslage einen alternativen Weg gäbe? Wir könnten uns entscheiden. Unseren eigenen Weg gehen. Hinter dem Horizont, wo alles anders ist als davor. Perfekt ist es auch hier nicht, doch vielleicht könnten wir den Frieden finden, nach dem wir uns sehnen.

Auf den ersten Blick scheinen wir allein zu sein. Der Tod kann daran nichts ändern. Was gewinnen wir also durch ihn? Eine Alternative zu haben bedeutet Hoffnung. Es ist kein endgültiger Zustand, nur eine erste Station auf unserer Reise. Eine Reise, durch die sich neue Möglichkeiten eröffnen können. Neue Abzweigungen, neue Menschen, die wir kennenlernen. Niemand ist allwissend. Ja wer weiß denn überhaupt, was hinter der nächsten Biegung des Weges auf uns zu kommt. Doch dieser Umstand bedeutet alles andere als Ohnmacht. Es sind wir, die die Entscheidungen treffen. Wir haben uns entschieden. Wir, hinter dem Horizont. Ein Märchen in neun Bildern.

Der Befreite
Naci unter den Sternen

… In meinen Träumen ist es still. Das Leben hat mir nichts zu sagen. Keine Rechtfertigung für mein Erscheinen. Eine Einladung zum Verschwinden. Niemand hört mein lautloses Weinen. Mit der Einsamkeit abfinden. Groß fühlen, klein sterben. Ich will mich wehren, weiß aber nicht, gegen wen. Oder was. In meinen Träumen ist es laut. Trunken stolpere ich zurück. Das bin nicht ich …

In Wirklichkeit habe ich keine so großen Gedanken. Zu hoffen habe ich längst verlernt. Warum quäle ich mich? Es ist längst überfällig, den einzig richtigen Weg einzuschlagen. Die losen Fetzen einer Vision huschen durch mein Bewusstsein. Ich kann sie nicht fassen, nur zusehen, was sie mir in ihrer Mission offenbaren: Hinter dem Horizont steht ein Haus. Aus dem einzigen Schornstein kriecht weißer Rauch. Die zehn Schlafzimmer stehen leer. Vielleicht ist es an der Zeit, das zu ändern. Etwas stößt an mein Bein. Augen zucken. Wach.

Im nächsten Moment schlägt die Haustür zu. Ich stehe auf der Straße. Der Bus kommt jeden Morgen sieben Minuten zu spät. Morgen für Morgen vergesse ich, einen dicken schwarzen Edding mitzunehmen, um den auf der gegenüberliegenden Straßenseite hängenden Fahrplan zu korrigieren. Morgen für Morgen sage ich mir, dass ich am nächsten Tag sicher dran denken werde. Der Witz ist, dass ich als einziger an dieser Station zusteige. Streng genommen ohne Ziel. Doch Morgen für Morgen steige ich an der JVA wieder aus. Freiwillig. Denn ich kriege kein Geld für meine Arbeit. Bloß Wohnung und eine Krankenversicherung. Die 17 Quadratmeter wirken eher wie 10, beim Arzt war ich seit über einem Jahr nicht mehr. Trotzdem bleibe ich. Der Stacheldraht hält die düstersten meiner Gedanken draußen. Einmal am Tag gibt es etwas zu essen. Abends warte ich, bis die Straßenlaternen angehen und drücke mich dann an ihnen vorbei in den pünktlich kommenden Bus mit der sympathischen Busfahrerin, mit der ich noch nie ein Wort gewechselt habe. Dazwischen spreche ich mit Jugendlichen. Gefangenen Jugendlichen. Wir reden über Religion, Politik und die Reue, die sie laut Jugendrichterin empfinden sollten. Ich glaube nicht, dass sie etwas grundlegend falsch gemacht haben. Den ein oder anderen würde ich sogar ohne Zögern durch die Hintertür des provisorischen Klassenzimmers vorbei am Kräutergarten durch den Lieferanteneingang nach draußen schmuggeln. Doch noch nie hat mich einer der Jugendlichen nach dieser Möglichkeit gefragt und ich will mich nicht aufdrängen.

Sonntags besuche ich meine Eltern. Zwei Stunden fahre ich dafür Bus. Am Hauptbahnhof steige ich aus und kaufe einen großen Hefezopf, um mit dem nächsten Bus weiterzufahren. Manchmal sind meine Eltern gar nicht zuhause und vergessen, mir rechtzeitig Bescheid zu geben. Dann lege ich den Hefezopf der Nachbarin vor die Tür, klingel zweimal und gehe wieder. Ich weiß nicht einmal, ob sie Hefekuchen mag, ja ob überhaupt noch jemand in der Wohnung lebt. Früher jedenfalls habe ich ihr viele Streiche gespielt. Wenn sie mich erwischte, musste ich in ihre Wohnung kommen und zulassen, dass sie mir den Hintern versohlt. Richtig mit der flachen Hand und Hose ausziehen. Sie schlug nie fest, ganz im Gegenteil, und versprach mir dafür, dass sie mich nicht bei meinen Eltern verrät. Ich denke, dafür sollte ich ihr dankbar sein.

Ich bin in dieser Stadt groß geworden. Habe mir hier zum ersten Mal vorgestellt, wie es sein musste, schwerelos zu sein. Hatte hier meine ersten Träume. Über das Land hinter dem Horizont. Nein. Große Gedanken hatte ich nie. Ich war ein hoffnungsloser Fall. Meine Lehrer versprachen mir das Blaue vom Himmel. Nach der Grundschule das Gymnasium, nach dem Abi die Universität, nach dem Abschluss den Doktor. Mit 30 fängt das Leben an, sagten sie. Für mich begann und endete es mit 16. Mit Glück und etwas Verstand kam ich für ein Jahr in der JVA unter. Aus einem Jahr wurden zwei, aus zwei drei, aus drei vier, aus vier zehn. Es geht mir gut. Geld macht nicht glücklich, genauso wenig eine Ehe. Es sind die Menschen, die mir am Herzen liegen, die mich lieben, so wie ich bin. Die mir Morgen für Morgen auf ihre ganz eigene Art sagen, dass sie stolz auf mich sind. Der Busfahrer, der meinetwegen immer zu spät kommt, weil er weiß, dass ich schwer aus dem Bett komme. Die Jugendlichen, weil sie mich nicht auf ihre „schiefe Bahn“ ziehen wollen. Die Busfahrerin, die ebenso wie ich Smalltalk hasst. Meine Eltern, die wohl ahnen, dass ich noch eine Schuld bei der Nachbarin zu begleichen habe.

Halt. Die Türen schließen sich. Zu spät merke ich, dass ich den Ausstieg verpasst habe. Warum hat niemand etwas gesagt? Alle wissen doch, dass das meine Station ist. Noch während ich aufgeschreckt, ein energischer Protest mir auf der Zunge liegend, im Gang stehe, beschleunigt die Busfahrerin so abrupt, dass ich ganz von selbst wieder mit dem Hosenboden auf meinem Sitz lande. Im trüben, verkratzen Fensterglas spiegelt sich der Innenraum des Busses, weshalb ein Blick nach außen nicht lohnt, selbst wenn ich mir die Nase plattdrücke und mit den Händen meine Augen abschirme. Wo ich nun hinfahre, gibt es keine Laternen mehr. Ich gebe mir größte Mühe, die Reihenfolge von Links- und Rechtskurven zu behalten, dass ich auch den Rückweg finde. Der Bus fährt schnell und weit; nichts von der Umgebung, auf die ich durch die große Windschutzscheibe einen Blick erhasche, kommt mir bekannt vor. Beim nächsten Halt steige ich aus. Zum ersten Mal verabschiede ich mich bei der hübschen, jungen Busfahrerin und sie nickt mir höflich zu. Im nächsten Moment stehe ich auf der Straße. Der Mond versteckt sich hinter einer Wolke. Mein Herz pocht.

Es dauert eine Ewigkeit, bis sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse angepasst haben. Um mich herum ist ein flackerndes, graues Rauschen, das mich davon ablenken soll, dass in Wirklichkeit meine Umgebung in pechschwarzer Nacht versunken liegt und sich meine Augen niemals so weit daran gewöhnen werden, dass es mir weiterhilft. Mir fehlt jegliche Orientierung. An dem Knirschen meiner Schritte erkenne ich, dass ich den Schotterstreifen neben der Straße nicht verlassen habe. Was soll’s. In irgendeine Richtung muss ich ja gehen. So lasse ich mich vom Wind dahin treiben. Im Vertrauen flüstert er mir zu: „Eins, zwei, drei, zehn Zimmer sind noch frei. Vier, fünf, sechs, die Angst ist ein Reflex. Sieben, acht, neun, du darfst den Sprung nicht scheu’n. Wirst du jetzt nicht ehrlich sein, im trüg’risch dunklen Dämmerschein, wirst du es lebenslang bereu’n.“

Obwohl ich noch immer nichts sehe, blitzt auf dem Boden ein alternativer Weg auf. Wenn ich ehrlich bin, habe ich die Entscheidung, eines Nachts diese Abzweigung zu nehmen, bereits vor vielen Jahren getroffen. Der Wind hat Recht. Ich werde vieles vermissen. Das ist die Absurdität des Überlebens. Denn lieber gehe ich mit jungem Herzen als unglücklich zerrissen zu sterben. Dabei ist die Einsamkeit ein Trugbild. Wir sind zwar eine Minderheit in der Gesellschaft, doch wir haben eine Stimme. Allein die Angst hält uns davon ab, sie zu benutzen.

Hinter dem Horizont gibt es keine Angst. Nachdem ich losgelassen habe, trägt mich der Wind zu dem großen, alten Blockhaus aus meinem Traum. Im Dunkeln wirken die zugeschlagenen Fensterläden wenig einladend, ganz zu schweigen von der pechschwarzen Haustür. Ich taste die Wand ab nach einem Schlüssel, ohne Erfolg. Darauf greife ich zur Türklinke und stelle fest, dass der Eingang unverschlossen ist. Auf Anhieb finde ich das Wohnzimmer und eine Küche. Ohne elektrische Geräte wirken beide Räume, voll ausgestattet mit Möbeln, schlichten Wandgemälden, Porzellangeschirr, Kerzenständern und sonstigen altmodischen Utensilien wie aus einer anderen Zeit. Die breite Steintreppe, deren Stufen das wenige hereinfallende Sternenlicht an die Decke reflektieren, bringt mich in einen langgezogenen Flur, von dem elf symmetrisch angeordnete Türen abgehen. Auf der letzten Tür, derjenigen auf der mir gegenüberliegenden Schmalseite des Flurs, steht das Wort „DACH“. Bleiben zehn Schlafzimmer, fünf auf jeder Seite. Nachdenklich beziehe ich das Zimmer hinter der ersten, von der Treppe aus rechten, Tür. Nein. Große Gedanken hatte ich nie. Aber vielleicht ändert sich das nun.



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