Einsamkeit als literarisches Motiv
„Allein. Ganz allein. Allein? Er war nicht allein. Da war noch jemand. Er war allein!“ Mit diesen Worten beginnt meine allererste Kurzgeschichte und vermittelt dem aufmerksamen Leser, dass der Protagonist gleich auf mehreren Ebenen allein ist. Allein auf seinem Steg, allein mit seinen Problemen, allein in seiner Welt. Das Gefühl, welches wir in diesen Zustand hinein interpretieren, nennen wir Einsamkeit. Obgleich dieser Begriff tendenziell negativ konnotiert ist, suchen viele Menschen auch Einsamkeit, um sich zu entspannen, Problemen zu entkommen und sich neu zu ordnen. Wann ein Mensch unter seiner Einsamkeit leidet, lässt sich kaum beantworten, da häufig andere Faktoren als die reine Kontakthäufigkeit überwiegen. Alleinsein an sich ist immer relativ. In Zahlen gemessen war Michael Collins im Jahr 1969 der einsamste Mensch im Sonnensystem, als er allein in seiner Raumkapsel den Mond umkreiste, während Neil Armstrong und Buzz Aldrin auf der Oberfläche landeten. Etwa 3.500 Kilometer trennten ihn von der nächsten menschlichen Seele und das hat ihn nach eigener Aussage sehr nachdenklich gemacht. Der Mensch ist nicht fürs Alleinsein gemacht, wir sind überaus soziale Wesen und auf Dauer allein nicht überlebensfähig. Dabei kommt es aber selten auf den physikalischen Abstand zu anderen Menschen an, sondern vielmehr auf das soziale Erleben.
In Geschichten wird dies gerne verdeutlicht, indem der Protagonist selbst eine Trennung zwischen sich und allen anderen Menschen sieht und nur noch durch eine Blase am Leben teilnimmt. Sobald sich ein einziger Mensch mit ihm verbündet, zerplatzt die Blase und alles ist wieder gut. Damit ist Einsamkeit in der Literatur ein mit starken Worten beschreibbarer und doch einfach zu lösender Konflikt, der gleichzeitig zu einer Liebesgeschichte einlädt. Den romantisch emotionalen Bezug gewinnt die Situation nur dadurch, dass wir genau wissen, wie ernst das Problem in der Realität tatsächlich wäre. Somit ist Einsamkeit ein Mittel, um Spannung über einen längeren Zeitraum zu halten, ohne viele Begegnungen entwickeln zu müssen. Es kann genutzt werden, um komplexe Charaktere aus einer Innenperspektive zu beschreiben, die bei einer bewegten Handlung untergehen würde. Oder es wird das stilisierte Bild des einsamen Wolfs produziert, welcher sich durch Stärke und Unabhängigkeit vom Rest der Menschheit absetzt. Der Schritt zur Tragödie des Alleingelassenen ist nie weit und bietet sich stets als Wendepunkt in der Handlung an.
Häufig werden die genannten Motive durch einen Suizid auf den Höhepunkt getrieben, da durch den Tod des Protagonisten suggeriert wird, die ganze Welt inklusive aller Figuren fände ein Ende. Der Autor kann einen Schlusspunkt setzen und hinterlässt keinerlei offene Handlungsstränge, da alles auf den Protagonisten fokussiert war.
Ironischerweise erleben einsame Menschen in der Realität häufig das genaue Gegenteil. Alle Menschen um sie herum knüpfen miteinander Beziehungen, nur sie selbst erhalten keinen Anschluss. Die verzerrte Darstellung in der Literatur könnte deshalb unter Umständen dazu führen, dass Betroffene sich vorstellen, durch ihren Suizid Macht über andere auszuüben.
Schon seit dem 18. Jahrhundert während der Epoche der Empfindsamkeit und später der Romantik suchten Künstler bewusst die Einsamkeit als Triebkraft der Melancholie und hielten ihre Gedanken in Tagebuchform fest. So entstanden Werke wie Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ oder „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse. Der einsame Waldspaziergang hat sich seither als Mittel zur Selbstfindung und Inspiration etabliert.
In einer Welt, in der man mehrere Stunden mit dem Auto fahren muss, um nicht alle fünf Minuten einem anderen Menschen zu begegnen, hat das Motiv der Einsamkeit freilich eine ganz neue Bedeutung gewonnen. Wer nicht erreichbar ist, wird gesellschaftlich irrelevant. Und wer nach den Regeln der Zeit lebt, verliert sich in der digitalen Kommunikation. In der modernen Literatur ist Einsamkeit vielschichtiger und facettenreicher geworden. Viele Werke setzen sich ernsthaft mit einhergehenden Krankheiten wie der Depression auseinander. Und doch haben wir, wenn wir die Augen schließen und an einen einsamen Ort denken, noch immer das romantische Bild unberührter Natur und endloser Weiten im Kopf.
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