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Über die Alpen


Autor: Jonathan Püttmann
Bilder: Niklas Spiller
Hochgeladen: 19.12.2020
Textart: Bericht
Kategorie: Reisen
Länge: 17314 Wörter
Seite 10
A415

Alpenüberquerung 2016


Wildcampen neben der Haupstraße
Pfunders - Brixen, Letzter Tag, Abreise

Strecke: 5km; Höhenmeter: 20hm hoch, 180hm runter

Es war ein seltsames Gefühl, am nächsten Morgen aufzustehen und zu wissen, dass keine herausfordernde Wanderung mehr vor einem lag. Wir hatten quasi unser Ziel erreicht, mussten nur noch einkaufen gehen und konnten es uns dann die letzten Tage in Brixen gemütlich machen. Zwar wussten wir noch nicht, wie unsere letzte Unterbringung aussah, doch wir waren guter Dinge, dass es wärmer als mitten auf dem Feld, angenehmer als in einer Garage und geräumiger als in einer kaputten Scheune sein würde. So setzten wir uns zum Frühstück zusammen und kämpften um die letzten Brotreste. Sven, der schon am Vortag gelitten hatte, versuchte verzweifelt, die Schleimspuren auf seinem Schlafsack abzuwaschen, die die Schnecken aus dem Holzstapel in der Nacht hinterlassen hatten. Bei mir waren ebenfalls welche zu sehen, was mich allerdings weniger störte. Somit war endgültig entschieden, dass Sven als Pechvogel der Reise in Brixen ankommen sollte.

Weiterhin wurde Kleidung im Fluss ausgewaschen und auf den Zaun zum Trocknen gehängt, wo die Sachen von gestern durch den leichten Regen in der Nacht noch immer feucht waren. Josua stellte fest, dass selbst sein teures biologisch abbaubares Waschmittel nicht zum Gebrauch in der Natur bestimmt war. Wir fragten uns, warum dann jeder zweite von uns ebenfalls ein Fläschchen mitgenommen hatte. Genau wie bei Seife und Shampoo hätten einmal 100ml für die ganze Gruppe gereicht, deshalb standen diese drei Produkte auch an erster Stelle an Dingen, die ich bei der nächsten Reise anders machen wollte. Am Schluss bestand aber das größte Problem sowieso darin, dass weder Socken noch Hosen noch Oberteile rechtzeitig trockneten und deshalb nass wieder in die Rucksäcke eingepackt werden musste.

Bei schönstem Wetter und ohne große Hektik machten wir uns dann endlich fertig für den Aufbruch. Die getrockneten Planen wurden zusammengerollt, Schnüre und Heringe eingepackt. Ein letztes Mal drückte ich mich davor, die zusätzlichen zwei Kilo auf meine Schultern zu nehmen und stopfte bloß mein eigenes Zeug ohne jede Ordnung zusammen ins Hauptfach des Rucksacks. Wenig später führte Josua die Gruppe den Weg hinauf, an dessen Beginn wir übernachtet hatten. Es ging durch eine lichte Wald- und Wiesenlandschaft und ich unterhielt mich eine Weile mit Rebecca.

Vielleicht lag es an den aufreibenden letzten Tagen oder der voreiligen Freude über das Ende der Wanderung – auf jeden Fall machte mir der Weg nach nur fünf Kilometern doch noch zu schaffen. Es war sehr warm und die Sonne schien ununterbrochen, als wir endlich ein kleines Dorf namens Weitental erreichten. Hier konnten wir zum Glück unsere Rucksäcke kurz absetzen und in einem kleinen Supermarkt Wegzehrung einkaufen. Ich betrat also zum ersten Mal seit Innsbruck wieder ein Geschäft und das Erste, woran ich dachte, waren abgepackte Kuchen und Rosinenschnecken. Andere kauften Wassereis und Knabberzeug. Bis zu diesem Moment war mir überhaupt nicht aufgefallen, dass ich außer den Kaiserschmarren kaum Süßes während der Reise gegessen hatte. Nach drei Rosinenschnecken fühlte ich mich wie ein anderer Mensch und hatte nun erst recht keine Motivation mehr weiterzulaufen. Den anderen ging es ähnlich und es war bereits früher Nachmittag, also stiegen wir abermals in den Bus und fuhren die restliche Strecke nach Niedervintl. Dort ging es durch den hübschen Dorfkern direkt zum Bahnhof. Wir warteten einige Minuten bis unsere Bahn kam, dann ging es auf Schienen durch die Dörfer, bis wir schließlich am Bahnhof von Brixen standen.

Die Sonne war verschwunden und kühle Windböen peitschten den mäßigen Regen durch die Straßen. Plötzlich waren wir mitten in einer richtigen Stadt. In den Bergen war durch Wegmarkierungen, Steigung und Umgebung stets ersichtlich gewesen, in welche Richtung wir uns grob orientieren mussten. Hier zwischen zig gleich aussehenden Straßen und Häusern und tausenden Möglichkeiten waren wir völlig aufgeschmissen. Zum Glück hatten unsere Betreuer einen Plan und wir folgten ihnen in einem langen Trott durch die Innenstadt ohne Hoffnung, die eigene Orientierung bald wiederzuerlangen. Stattdessen wurde wild spekuliert über unser Ziel, laut Josua eine Schule, die uns Unterschlupf gewährte. Brixen ist eine relativ grüne Stadt mit vielen großen, weit auseinander stehenden Gebäuden.

Auf unserem Weg kamen wir an einem Eurospar vorbei und gingen ein weiteres Mal einkaufen. Dabei nutzten wir das ungewohnt große Angebot und deckten uns auch mit frischen Lebensmitteln wie Obst, Joghurt und Milch ein. Umso mehr mussten wir den letzten Kilometer mit uns tragen. Und jedes Haus sah auf den ersten Blick wie eine Schule aus mit den hohen Mauern und den gepflegten Grünflächen.

Schließlich blieb Josua vor einem runden Eisentor stehen und wandte sich zu uns. Natürlich schauten wir nicht ihn, sondern das Gebäude im Hintergrund an. Unter Schule hatten wir uns wahrlich etwas anderes vorgestellt – vor uns lag das Bischöfliche Institut Vinzentinum. Für uns sah es aus wie ein Palast.

Eilig liefen wir über den Vorplatz und betraten das Gebäude durch den Haupteingang. Im Foyer legten wir unsere Rucksäcke ab und setzten uns auf die Treppen. Das Hauptgebäude hatte einen quadratischen Grundriss mit einem großen Innenhof, in den wir nun blickten, während wir auf weitere Informationen warteten. Es war ein eigentümliches Gefühl, in dieser fremden Schule zu stehen mit dem Wissen, irgendwo auf dem Grundstück zu übernachten, während die privilegierten Schüler hohe Beiträge zahlten, um hier zu sein. Zum ersten Mal sahen die meisten von uns eine Zentralstaubsaugeranlage. Runde Löcher in der Wand, in die man bloß das Saugrohr einstecken musste ohne Stromkabel oder Auffangbeutel. Ich hatte nicht gewusst, dass es so etwas gibt.

Wir durchquerten den Innenhof und den dahinter liegenden Gebäudeflügel und standen schließlich auf der Wiese vor unserem tatsächlichen Übernachtungsort: einer alten, baufälligen Turnhalle. Heute ist die Halle längst abgerissen und schon damals war offensichtlich, dass kein Sport mehr darin stattfand. Im Inneren war der Gummiboden an mehreren Stellen aufgerissen, die metallenen Geräte waren alt und angelaufen und in der Ecke hinter der Reinigungsmaschine war eine stinkende gelbe Pfütze. Ich glaube, anfangs war ich ein wenig enttäuscht, dass wir nicht im Hauptgebäude schliefen, aber das legte sich bald. Immerhin hatten wir eigene Toiletten und Duschen und fanden einen Fußball sowie mehrere Basketbälle.

Normalerweise gilt ja ein absolutes Verbot von Straßenschuhen in Sporthallen, doch uns kümmerte das wenig und wir begannen spontan in Wanderschuhen Basketball zu spielen. Der Stimmung war fröhlich und ausgelassen. Wir hatten uns über die Tage relativ gut kennengelernt und so war es eine gute Abwechslung, miteinander noch anderen Sport als Wandern auszuüben. Brixius stellte sich als überraschend guter Spieler heraus, aber es achtete sowieso niemand auf die Punkte. Ein paar Mal rollte der Ball in die Ecke mit der gelben Pfütze, konnte jedoch glücklicherweise immer gerettet werden.

Bischöfliches Institut Vinzentinum Später gingen Felix, Leon, Brixius, Christian, Paul und Julian noch bei Regen raus auf die Wiese und spielten Fußball. Ich konnte mich nicht von meinem Basketball trennen und warf solange Körbe, bis ich gebeten wurde aufzuhören, weil es zu laut war und auch bald mit dem Kochen begonnen werden sollte.

Gegen Abend waren alle ausgepowert und hungrig und wir begannen damit, die Halle etwas wohnlicher zu gestalten. Da unter dem Basketballkorb der Gummibelag komplett weg war und der Boden aus nackten Beton bestand, wurde hier der Gasbrenner aufgebaut. Als Sitzgelegenheiten dienten zwei Stühle und eine Bank, eine zweite Bank stand weiter hinten.

Die Rucksäcke, Jacken und Schuhe hatten wir an der Wand vorm Eingang abgelegt. Unter dem zweiten Basketballkorb auf der anderen Hallenseite wurden rechteckige Teppich­stücke ausgelegt, gerade groß genug für je eine Isomatte. Das war nicht sonderlich bequem, aber dafür hatten wir bis spät abends ausreichend Licht und ein Dach über dem Kopf. Quer durch die Halle wurde eine Wäscheleine gespannt und wir konnten endlich alle unsere Klamotten trocknen lassen. Ich glaube, die ein oder andere Socke von mir war noch immer nass von unserem ersten Wandertag zum Hallerangerhaus und entsprechend roch es in meinem Rucksack.

Zum Essen gab es natürlich Nudeln. Ich glaube nicht, dass sich noch irgendjemand darauf freute, wie das trockene Brot zu Morgen und Mittag erfüllte es bloß noch den Zweck als Energielieferant. Immerhin gab es frischen Salat dazu und da wir Zeit hatten, konnten wir mehrere Portionen hintereinander kochen, bis auch der Letzte satt war.

Später machten Chipstüten die Runde und es wurde im Schein einer alten Stehlampe Werwolf gespielt. Der Gruppe harmonierte so gut, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, an einem Abend etwas anderes zu machen als im Kreis zu sitzen und miteinander zu reden, zu spielen und zu lachen. Ich war wirklich glücklich, als ich als einer der letzten in meinen Schlafsack stieg und vergeblich versuchte, aus irgendwelchen Kleidungsstücken ein bequemes Kopfkissen zu formen. Ein ganzer Tag stand uns noch bevor und es war pure Vorfreude, die mich noch lange wach hielt. Doch schließlich schlief auch ich glücklich und zufrieden ein.

Der nächste Tag begann langsam und schwermütig. Die gestrige Partystimmung war verflogen, stattdessen machte ich mir plötzlich Gedanken über die Abreise. Ich wollte nicht, dass alles einfach zu Ende war. Gleichzeitig war der endgültige Abschied nur noch eine Frage von Stunden. Der Bahnhof war nur wenige Minuten entfernt. Theoretisch hätte ich die letzten 24 Stunden einfach in der Halle bleiben und auf die Abreise warten können. Zum Glück waren die anderen besserer Laune und so begann ich mich während des Frühstücks ebenfalls auf den Tag zu freuen.

Was wäre eine Jugendreise ohne Gemeinschaftsspiele? Um die Unternehmung abzurunden hatten die Betreuer noch die ein oder andere Aktion geplant. Mich hatte es ohnehin gewundert, dass wir während der Wanderung vollkommen mit den ganzen pädagogischen Spielen in Ruhe gelassen worden waren. Jetzt hatten wir allerdings wieder Zeit und so bot es sich an, die letzten Pflichtaufgaben von der Liste zu streichen.

Ich wurde nach meinem Lieblingstier gefragt und ich sagte spontan Glühwürmchen. Dann wurde die Gruppe nach Tieren abgezählt und in drei Teams geteilt. Ich war also unverhofft Namensgeber des Teams Glühwürmchen geworden. Alle Teams erhielten die gleiche Aufgabe, nämlich die Reise aus unserer Sicht als Theaterstück zu präsentieren. Wir bekamen etwa eine Stunde Zeit und durften sämtliche uns zur Verfügung stehenden Materialien nutzen. Ich weiß nicht, wie die anderen darauf kamen, aber es wurde bei uns relativ schnell entschieden, dass ich Josua spielen sollte. Als Requisiten bekam ich Josuas Hut und einen Wanderstock. Wir liefen also in einer Reihe durch die Halle und ich machte jeden zur Schnecke, der es wagte zu meckern. Die Pointe bestand darin, dass ich ankündigte, erst wieder in zwei Stunden Pause machen zu wollen. Immerhin hätten sich alle freiwillig für die fortgeschrittene Route entschieden. Nicht besonders kreativ, aber es wurde dadurch lustig, dass keine Gruppe unseren Wanderführer gut wegkommen ließ. Obwohl sich im Grunde alle darin einig waren, dass Josua und Réka einen super Job machten. Das Highlight war, als sich bei einem anderen Team jemand im Schlafsack als Nacktschnecke verkleidete und Sven durch die Halle jagte. Soviel also zu unseren Schauspielkünsten.

Wir alle hatten über eine Woche lang unsere Schwimmsachen mit uns herum getragen und aus diesem Grund wollte wahrscheinlich auch niemand zurückbleiben, als wir uns fertig machten fürs Schwimmbad. Zum ersten Mal packte ich meine Sachen nicht in den großen Rucksack, sondern in einen kleinen Plastikbeutel. Über die ganze Wanderung hatte ich mich zu keinem Zeitpunkt von meinem Rucksack weiter als 200 Meter entfernt. Es fühlte sich falsch an, den Großteil des Gepäcks in der Halle zurück zu lassen und lediglich mit Geldbeutel, Trinkflasche, Handtuch und Badehose unterm Arm loszulaufen.

Es ging wieder am Eurospar vorbei und weiter die Hauptstraße entlang. Die Acquarena ist etwas tiefer gelegen, deshalb sieht man als Erstes nur das kreisrunde Schrägdach, danach den großen Parkplatz, der das Gebäude umschließt und zuletzt die runde Glasfassade. Wir hatten einen Ball mitgenommen und wollten unbedingt ein Beachvolleyball-Feld suchen. Doch zunächst gingen wir ins Spaßbecken und tunkten uns gegenseitig und natürlich Leon besonders oft unter Wasser. Im Außenbereich des Schwimmbad gab es eine Art runde Kabine aus Metall, in der mehrere Menschen eine Art Wellenbecken erzeugen konnten, in dem sie abwechselnd in die Knie gingen und hochsprangen.

Es gab einen großen Whirlpool mit angenehm heißer Wassertemperatur. Das Problem war nur, dass das Becken nie komplett frei war. Zu der Zeit hatte sich die Gruppe bereits in alle Winkel des Bades zerstreut, aber es bestand die Hoffnung, am Whirlpool wieder aufeinanderzutreffen. Josua machte den Vorschlag, dass ein paar von uns mit Leon zuerst reingehen sollten und durch die unvermeidbaren Balgereien dann die anderen Badegäste vergrault würden. Tatsächlich verhielten wir uns dann ungewöhnlich gesittet, trotzdem verließen nach und nach immer mehr Fremde den Whirlpool, je mehr Mitglieder unserer Gruppe den Weg zum Becken fanden. Schließlich saßen wir zu 16 Personen allein im Whirlpool und ließen es uns gut gehen. Wieder einmal zeigte sich die ausgezeichnete Gruppenharmonie mit der Selbstverständlichkeit, mit der wir das beliebteste Becken des Schwimmbads besetzten, ohne es vorher abgesprochen zu haben. Wir blieben bestimmt eine halbe Stunde im Whirlpool, danach wollten die meisten endlich Volleyball spielen.

Es ist erstaunlich, wie fixiert die Gruppenmitglieder auf Sport waren. Dass man dem Wandern bei einer Alpenüberquerung nicht abgeneigt sein durfte, war selbsterklärend. Doch darüber hinaus machte jeder von uns noch mindestens eine andere Sportart. Und das merkte man auch jeden Tag. So gesehen war unsere Sporthalle besser als jede Hotelsuite. Kaum waren wir aus dem Schwimmbad zurückgekehrt, begannen die Ersten bereits wieder mit ihrem Lieblingsballspiel. Dabei mussten mehrere Personen in einer festgelegten Reihenfolge einen kleinen Ball gegen die Wand schlagen – wer seinen Ball nicht erwischte, bekam einen Strafpunkt. Bei zu vielen Strafpunkten schied man aus.

Zum Abschluss unserer Reise wollten wir noch einmal gemeinsam richtig essen gehen. Bestens gelaunt liefen wir in die Altstadt und setzten uns in den Außenbereich einer Pizzeria. Es wurde viel gelacht und die Pizza schmeckte überragend nach dem eintönigen Essen der vergangenen Tage. Einige bestellten sich zum Nachtisch noch einen Eisbecher auf eigene Kosten. Ich schloss mich dieses Mal an und bestellte den größten Becher der Karte mit vielen Früchten und Sahne. Brixius lieh der halben Gruppe das nötige Geld, weil kaum jemand sein Portmonee mitgenommen hatte.

Danach schlenderten wir noch ausgelassen durch die Stadt und ließen uns Zeit mit dem Rückweg. Es war nach 10, als wir wieder in der Halle ankamen und noch bevor sich die Gruppe zerstreuen konnte, rief uns Josua noch einmal in einen Sitzkreis. Manche Rituale gibt es einfach auf jeder Jugendreise und so durfte auch auf der Alpenüberquerung die Verteilung der Armbänder nicht fehlen. Hierzu sollte sich jeder überlegen, wen er auf der Reise besonders wertgeschätzt hatte, beziehungsweise über wessen Bekanntschaft man sich am meisten freute. Gleichzeitig durfte jeder ein Fazit ziehen und die persönlichen Höhe- und Tiefpunkte mitteilen. Nach diesem Prinzip gab jeder reihum ein Bändchen weiter. Josua fing an und gab sein Band Niklas, mir wurde das Band von Rebecca überreicht, ich gab meins an Réka weiter und sie an Josua und so schloss sich der Kreis. Insgesamt hatte kaum jemand etwas Negatives zu sagen und die Betreuer wurden in den Himmel gelobt. Besonders schön fand ich, dass auch die anderen das starke Gruppengefühl wie ich wahrgenommen hatten. Mehrere gaben an, zum ersten Mal überhaupt so positive Erfahrungen in einer Jugendgruppe gemacht zu haben. Es war absolut still in der Halle und bis auf eine Lampe komplett dunkel und ich genoss die einzigartige Atmosphäre. Nahm man die vergangenen 10 Tage zusammen, war es die schönste Zeit, die ich bis dato in meinem Leben erfahren hatte. Und das gilt noch bis heute.

Bis Mitternacht wurden noch verschiedene Spiele gespielt, doch dann gingen wir recht zügig schlafen. Wir hatten gemeinsam zu Fuß die Alpen überquert und hatten darüber hinaus noch anderthalb tolle Tage in Brixen gehabt. Irgendwie musste ich damit klarkommen, dass es nun vorbei war. Und ich schlief glücklich und zufrieden ein.

Mein erster Gedanke am Morgen war, dass ich mich schon auf ein richtiges Bett freute. Dass man in der freien Natur auf Isomatten schlafen musste, sah ich ein. Doch nach spätestens zwei Nächten verging einem die Abenteuerlust in einer alten Turnhalle. Nach dem Frühstück fiel mir ein, dass ich noch immer nicht meine Schulden bei Brixius beglichen hatte. Ungeschickter Weise hatte ich bloß Fünfziger eingepackt, weil ich nicht damit gerechnet hatte, in den Alpen Geld ausgeben zu müssen. Ich fragte den Erstbesten, ob er mir einen Schein wechseln könnte, leider hatte derjenige aber nicht genug Kleingeld. Xavier wollte wissen, welche Scheine ich denn bräuchte. Die Stückelung war mir herzlich egal und so kam ich doch noch an den Zehner für Brixius. Notfalls hätte ich ihm auch die Fünfzig gegeben, denn ich rechnete es ihm hoch an, dass er am Tag vor der Abreise noch großzügig Geld verlieh, ohne überhaupt unsere Kontaktdaten zu haben.

Das Packen des Rucksacks war mir in Fleisch und Blut übergegangen und trotzdem fiel es mir schwer, alle meine Sachen ein letztes Mal noch unterzubringen. Was zu Beginn sauber gefaltet und gerollt an seinem Platz gelegen hatte, steckte verklumpt und teils noch immer feucht irgendwo zwischen Kopflampe (oberstes Fach) und Schlafsack (unterstes Fach). Dass ich nichts vergessen hatte, war nur daran zu erkennen, dass niemand etwas Fremdes eingepackt und wir nichts liegen gelassen hatten. Darüber hinaus hatte ich vollkommen den Überblick verloren.

Mit gewohnter Disziplin traten wir den Weg zum Bahnhof an. Vereinzelt gab es noch Gespräche, doch die Aufbruchstimmung der vergangenen Tage suchte man vergebens. Am Bahnsteig holte ich erstmals wieder mein Handy aus dem Rucksack und gab Felix meine Nummer, damit er mich zur WhatsApp-Gruppe hinzufügen konnte. Ich hatte das Gerät bewusst die ganze Zeit über nicht angerührt. Einerseits hatte ich nie das Bedürfnis gehabt, zu jemandem außerhalb der Gruppe Kontakt aufzunehmen, andererseits hatte ich auf diese Weise vollkommen abschalten und den Alltag vergessen können. Und kaum war das Gerät hochgefahren, fühlte es sich unwillkürlich wie ein erster Schritt raus aus der Wandergruppe an. Ich wusste ja, dass wir bald in München sein würden und von dort jeder seinen eigenen Weg einschlagen würde.

Zum Glück hatten wir eine Direktverbindung von Brixen nach München. In mehreren kleinen abgetrennten Abteilen hatten wir unsere festen Plätze und konnten uns gut zurückziehen. Ich saß unter anderem mit Felix und Josua in einem Abteil zusammen. In dem kleinen Raum gab es ganz klassisch zwei Sitzreihen, sodass man sich gegenüber saß. Außerdem konnte man die Sitze in eine waagerechte Position schieben und (wenn man die Schuhe auszog) sich komplett ausstrecken. Dabei stießen die Enden der Sitze in der Mitte des Raums zusammen, sodass man eine zusammenhängende Liegefläche errichten konnte. Aber natürlich passten unsere Rucksäcke nicht ansatzweise in die vorgesehenen Halterungen an der Decke, sodass wir etwa die Hälfte unserer Sachen unter den Sitzen verstauen mussten.

Einige Gruppenmitglieder wechselten während der Fahrt mehrmals zwischen unseren Abteilen. Ich blieb die ganze Zeit an einem Platz und genoss die Ruhe. Zugfahren ist ein komplett anderes Erlebnis, wenn man neben Menschen sitzt, die man gut kennt und die Tür zum Gang schließen kann.

Ein Zwischenfall ereignete sich noch, als wir die Grenze nach Deutschland überquerten. Während ich darüber nachdachte, dass wir mit dem Zug exakt die Strecke zurückgefahren waren, für die wir zu Fuß fast zwei Wochen gebraucht hatten, stiegen an einem kleinen Bahnhof mehrere Polizeibeamte in den Zug ein. Es war gerade die Zeit, in der die Grenzkontrollen wegen Flüchtlingen, die aus anderen EU-Staaten nach Deutschland wollten, verstärkt wurden.

Kurz kam ein Polizeibeamter zu uns ins Abteil und sah für eine Sekunde Felix an, der am ehesten „ausländisch“ aussah. Felix machte das vermutlich Beste in dieser Situation und grüßte als Münchener ganz selbstverständlich mit „Grüß Gott!“. Ohne ein weiteres Wort ging der Beamte daraufhin weiter. Zum Glück erkennt ein Bayer noch den anderen.

Kurze Zeit später kamen wir in München an. Der Abschied wurde kurz gehalten, man versprach sich, Fotos auszutauschen und über WhatsApp in Kontakt zu bleiben. Daraufhin ging jeder seines eigenen Weges. Ich erreichte ohne Probleme meinen Zug nach Karlsruhe und stellte im Zug fest, dass ich noch ein Stück mit Louis zusammen fuhr.

Etwa bei Stuttgart wurde meine Fahrkarte kontrolliert. Erschrocken sah ich in meinem Portmonee das leere Fach für meinen Personalausweis, den die Deutsche Bahn damals noch zur Identifikation verlangte. Ich hatte ihn zuhause auf dem Scanner liegen gelassen und stattdessen nur die Kopie mitgenommen. Ich sagte dem Kontrolleur, dass ich meinen Ausweis nicht finden konnte und er antwortete ganz sachlich, in diesem Fall sei meine Fahrkarte ungültig. Letztlich akzeptierte er aber auch die Kopie, wobei ich vor seinen Augen meinen halben Rucksack nach dem wasserdichten Beutel durchsuchen musste, in dem ich die Ersatzdokumente aufbewahrte.

Damit endete meine Reise durch die Alpen und ich bin so froh, dieses Erlebnis gemacht zu haben. Zwar habe ich so gut wie keinen Kontakt mehr zu den anderen, allerdings hat mir beim Anfertigen dieses Berichts Josua mit den Angaben der gelaufenen Kilometern und Höhenmetern sehr weitergeholfen. Außerdem waren Lena, Paul und Niklas so nett, ihre Fotos mit der gesamten Gruppe zu teilen. Ich habe ja während der Reise kein einziges Bild gemacht. Umgekehrt hoffe ich, dass ich dem ein oder anderen Leser dieser Zeilen ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Es ist ja jetzt schon über vier Jahre her, aber ich brauche nur die Fotos anzuschauen oder auf Google Maps die Strecke nachzuverfolgen und ich habe das Gefühl, gestern noch in der Wiener Neustadt aufgewacht zu sein.

Anmerkungen:

Ich bedanke mich bei allen Gruppenmitgliedern Brixius, Christian, Felix, Felix, Julian, Lena, Leon, Louis, Niklas, Paul, Rebecca, Sven und Xavier. Ihr ward die beste Gruppe, mit der ich je in den Bergen unterwegs war. Außerdem danke ich Josua und Réka, die uns geführt und motiviert und stets satt gekriegt haben. Ganz besonders freue ich mich, dass ich die schönen Fotos von Niklas verwenden darf. Und erst vor Kurzem hat mir Josua nochmal sehr weitergeholfen, indem er nach mehreren Jahren noch die genauen Messdaten für die gelaufenen Kilometer und Höhenmeter aus dem Archiv gekramt hat. Ohne euch wäre der Bericht in dieser Form nicht möglich gewesen.

An mehreren Stellen unterscheiden sich die Zahlenangaben im Fließtext geringfügig von denen am Beginn des jeweiligen Kapitels. Das ist der einfachen Tatsache geschuldet, dass wir selbst während der Wanderung die genauen Streckenangaben nicht kannten. Während also die vorangestellten Werte der GPS-Messung von Josuas Armbanduhr entsprechen, verwende ich ansonsten diejenigen Zahlen, mit denen wir selbst während der Wanderung gerechnet haben.