Alpenüberquerung 2016
Wiener Neustadt - Pfunders
Strecke: 14km; Höhenmeter: 750hm hoch, 1300hm runter
Als wir uns an diesem Morgen einer nach dem anderen aus unseren Schlafsäcken quälten, waren die beiden Wanderer aus der Nachbarhütte bereits weitergezogen. Es war eine windige Nacht gewesen und da nur eine Seite des Hauses mit der Plane abgedichtet war, hatte man stets ein leises Pfeifen des Zuges zwischen den Holzpfählen gehört. Draußen waren die Pflanzen im Schatten des Berges von einer kalten Schicht Tau bedeckt, zwischenzeitlich hatte es auch leise geregnet. Doch noch während des Frühstücks an der kalten Feuerstelle schob sich die Sonne über den Horizont und erwärmte die Lichtung. Es war noch gerade Zeit für einen letzten Rundgang von der Brücke bis zum Bach auf der anderen Seite, wo wir tags zuvor mit einigen Steinen ein separates Becken geschaffen hatten in der Hoffnung, es könnte von der Sonne auf Badetemperatur erhitzt werden. Wie an der Dominikushütte hätte ich am liebsten eine ganze Woche in der Wiener Neustadt verbracht, doch wir hatten ein fest definiertes Ziel. Jetzt in Italien erschien Brixen erstmals in realistischer Entfernung und so war ich an diesem Vormittag nachdenklicher als sonst. Würden meine Knie die letzten Tage auch noch durchhalten? War die Reise insgesamt erfolgreich gewesen? Mit welchen Erwartungen war ich eigentlich von Scharnitz aus in dieses Abenteuer gestartet?
Als wir schließlich aufbrachen, ging es tatsächlich am Hang entlang den mir sehr vertrauten Pfad an unserer Badestelle im Bach vorbei und fünf Minuten später hinaus aus dem Wald. Die Landschaft war sehr ähnlich zu der am Beginn des letzten Tages, als wir den Stausee hinter uns ließen. Der Weg folgte einer zwischen zwei Gipfeln in den Fels gegrabene Schneise, die mit der Zeit von einer üppigen Wiese überwachsen war. Bäume wuchsen nur dort, wo einzelne Felsen oder tiefe Mulden genügend Halt für die Wurzeln boten. Es war ziemlich warm und wir kamen schnell ins Schwitzen. Langsam näherten sich Weg und Bachlauf, die am Übernachtungsplatz noch 20 Höhenmeter auseinander lagen, aneinander an, bis sie sich schließlich mehrmals kreuzten und der Weg an der anderen Talseite fortführte.
Ungefähr an diese Stelle bekamen wir Probleme mit einer Gruppe neugieriger Kühe. Es waren wohl mehrere junge Bullen, die ihre Vorherrschaft auf dieser Weide klarstellen wollten. Zwar wurde zum Glück keiner aggressiv, doch waren sie gerade in der Gruppe ziemlich aufdringlich. Sie folgten uns, versperrten uns den Weg und kamen immer wieder näher als uns lieb war. Bei einer Trinkpause legte Felix seine Stöcke auf den Boden und sofort stellte sich ein Bulle mit seinem Körper darüber, sodass es unmöglich war, sie gefahrlos zurückzuholen. Ich beobachtete diese Szene mit dem Großteil der Gruppe aus sicherer Entfernung – die beiden Felixe warteten mit Josua darauf, dass sich das Tier von selbst irgendwann wegbewegte. Als es ihnen dann endlich gelang, die Stöcke aufzuheben, machten wir schnell, dass wir weiterkamen und überstiegen schließlich den niedrigen Elektrozaun, der das Ende der Gefahrenzone bedeutete. Bis zuletzt wurden wir dabei von zwei Bullen begleitet, die sich mit ihren massigen Körpern erstaunlich schnell über das unebene Gelände bewegten.
Je höher wir stiegen, desto eindrucksvoller wurde die Bergkulisse um uns herum. Hinter uns ragten gleich drei Gletschergipfel empor. Dazwischen war schwach die Hochfeiler Hütte auszumachen, die aber kein Ziel von uns war. Während darüber diskutiert wurde, welche der weißen Flächen auf den Bergen tatsächlich Schnee war, betraten wir selbst ein großes Geröllfeld, das bis zum Grad reichte, welchen wir überqueren mussten. Wieder wurde der Langsamste an die Spitze der Gruppe gestellt, was mich dieses Mal innerlich aufregte, da beim Bergablaufen nie Rücksicht auf die Schlusslichter genommen wurde. Gleichzeitig war es der letzte Wandertag und die Nerven lagen bei allen blank von der Anstrengung. Für mich war dieser eine Aufstieg der absolute Tiefpunkt der Reise. Die Gruppenstimmung war vergiftet von unnötigen Streitereien und ich wollte am liebsten noch am gleichen Tag die Heimreise antreten. So zog sich der Weg in die Länge, wir machten gefühlt in jeder Kurve eine Pause und verbrachten auf diese Weise über eine Stunde auf diesem trostlosen Geröllfeld.
Nachdem wir den höchsten Punkt hinter uns hatten und der Abstieg begann, löste sich die Anspannung zum Glück wieder etwas. Wie erwartet riss die Gruppe nach nur wenigen Minuten auseinander und fand sich erst wieder am Gasthaus der Alm. Unterwegs begegneten wir überraschend erneut der Familie mit den zwei kleinen Kindern, die von München nach Venedig gingen. Dieser Zufall besserte meine Laune augenblicklich und als wir schließlich bei einem Pausen-Snack zusammen an einem Tisch auf der Alm saßen, war ich doch wieder froh, dass die Reise noch nicht zu Ende war. Große Aufregung gab es, als der Hund von einem anderen Gast ausgerechnet an Svens Rucksack sein Beinchen hob. Nach einer kurzen Säuberungsaktion schlug irgendwann die plötzliche Aufruhr in entspannte Heiterkeit um mit Ausnahme von Sven selbst, der noch Tage später über den Hund und seinen Besitzer schimpfte.
Es begann der letzte große Abstieg der Alpenüberquerung von der Alm hinunter nach Pfunders. Parallel zum Weg sprudelte ein wilder Gebirgsbach und übertönte alle andere Geräusche. Der Weg war nun eine befahrbare Straße und die Steigung wäre unter gewöhnlichen Umständen vernachlässigbar gewesen, hätten wir keine 18kg Rucksäcke tragen müssen. Das Wetter war perfekt und die Nachmittagssonne schien schräg durch die Nadelbäume des Waldes, durch den die Straße führte. Über mehrere Kilometer ging es nur geradeaus und die Rucksäcke drückten auf den Rücken. Brixius und ich machten uns den Spaß, den kleinen Leon immer wieder vom Weg abzudrängen. Und obwohl er der Jüngste in der Gruppe war, durfte man den begabten Internatsschüler nicht unterschätzen. Gerade in den letzten Tagen erzählte er von seinem sonstigen Leben und wie es dazu gekommen war, dass er die erste Klasse übersprungen hatte. Er wusste durchaus, wie er es sich zunutze machen konnte, dass er aufgrund seiner Größe und seines Alters ständig unterschätzt wurde. So fragte er mich kurze Zeit später, ob ich ihn nicht tragen könnte. Allein schon bei dem Gedanke – ich mit Rücken- und Knieschmerzen und völlig am Ende, er kaum zwei Jahre jünger und in vermutlich besserer Verfassung – muss ich noch heute darüber lachen.
Die letzten Meter hinunter ins Dorf, ständig begleitet vom Rauschen des Bachs, habe ich rückblickend als sehr entspannt in Erinnerung. Natürlich quälten jeden von uns unzählige Belastungen und Schmerzen, doch viele betraten erstmals seit Innsbruck wieder eine bewohnte Siedlung. Die Hauptstraße am Schlegeis Stausee war damit nicht zu vergleichen, da dort in erster Linie Durchgangsverkehr und Massentourismus herrschten. Hier in Pfunders gab es richtige Wohnhäuser, kleine Hofläden, stille Gassen und leere Bushaltestellen. Zum Glück erwischten wir pünktlich an der Hauptstraße einen Bus, der in unsere Richtung fuhr. Die Fahrtstrecke betrug zwar nicht viel mehr als einen Kilometer, doch auf diese Weise hatten wir noch genügend Energie, um alle gemeinsam beim Zeltaufbau zu helfen. Ein letztes Mal sollten wir noch unter freiem Himmel schlafen. Dafür hatte Josua ein kleines Rasenstück zwischen Hauptstraße und Waldrand vom Grundbesitzer für uns reserviert. Der zu einem regelrechten Fluss verbreiterte Bach lag mit einer Reihe Bäume und einigen Stapeln Holzscheite zwischen uns und der Straße. Jede halbe Stunde fuhr ein Auto auf dem Schotterweg an uns vorbei, ansonsten waren wir ganz für uns allein. Als das Zelt stand, konnten wir unsere Kleidung am Fluss direkt auswaschen und am Drahtzaun auf der anderen Seite des Feldweges aufhängen.
Zum Essen gab es die restlichen Zutaten, die am Vortag eingekauft und nicht verbraucht worden waren. Es tauchte die berechtigte Frage auf, weshalb jeder von uns laut Packliste eine Kerze hatte mitnehmen müssen. Da auch die Betreuer keine genaue Antwort darauf geben konnten, entschieden wir, an diesem letzten Abend im Freien ein symbolisches Lagerfeuer anzuzünden. Wer wollte konnte seine Kerze auf der Straße aufstellen und wir setzten uns in einem großen Kreis drumherum und spielten erstmals mit der ganzen Gruppe Werwolf. Dafür mussten neue Karten geschrieben werden und wir fügten gleich neue lustige Rollen wie den Dorfdeppen hinzu. Danach wurde noch lange geredet. Am Schluss saßen wir nur noch zu viert auf der niedrigen Holzbank, die ständig umzukippen drohte und jedes Mal beiseite getragen werden musste, wenn ein Auto die schmale Straße die Wiese hoch fuhr. Die Stimmung war rundum entspannt und friedlich. Wir hatten die Wanderung endlich hinter uns, doch es waren noch zwei ganze Tage bis zur Abfahrt, die wir quasi frei nutzen konnten. Ganz vorsichtig tauchten wir wieder ein in den Rhythmus der Zivilisation. Das nächste Haus war nur zweihundert Meter entfernt und es war ein seltsames Gefühl, in Sichtweite der Hauptstraße zu übernachten. Ich hatte mir einen Platz direkt am Holzlager reserviert, was den Vorteil hatte, dass ich noch bei absoluter Dunkelheit auf der anderen Zeltseite unter die Plane kriechen konnte. Gleichzeitig hatte ich so den kürzesten Weg ans Flussufer und es würde am nächsten Morgen zugleich der dunkelste Ort sein. Erst als ich im Schlafsack lag, merkte ich, dass das feuchte Holz ziemlich stark roch. Ich ließ mich aber davon ebenso wenig stören wie von der knapp bemessenen Plane, dessen Rand über mir im Wind flatterte. Und ich schlief glücklich und zufrieden ein.
Nächster Tag ...