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Hinter dem Horizont


Text/Abbildungen:
Jonathan Püttmann
Geschrieben: Oktober 2019
Hochgeladen: 05.02.2020
Länge: 13294 Wörter
Genre: Märchen
Seite 4
A205

Wir, hinter dem Horizont


Der Friedfertige
Begegnung an der Quelle

Sein Schlaf ist unruhig. Nacht für Nacht. Für ihn gibt es keine Erholung. Seine Muskeln schmerzen. Seine Finger krallen sich, stumm kreischend, in die Matratze, dass die Nagelbetten rot anschwellen. Alkohol macht es nur noch schlimmer, sein Stolz verbietet ihm den Besuch beim Arzt. Er hat ohnehin bereits alle Mittelchen durchprobiert. Die einen machen ihn dösig und unkonzentriert, helfen aber nicht gegen die Symptome, die anderen hauen ihn komplett weg, dass er nicht einmal mehr einkaufen oder zu seinen Kumpeln auf ein Bier fahren kann. Die Herren Doktortitel können ihm nichts erzählen. Was sie in einer Stunde aufwendig und teuer analysiert haben, hätte er ihnen vorher ohne Zögern ins Gesicht sagen können. Er weiß ja, was ihm den Schlaf raubt.

Ein lautes Donnern lässt ihn hochfahren. Wen hat es dieses Mal erwischt? Schreie, nicht klagend, sondern verzweifelt, ein ausgezeichneter Nährboden für Hass. Werden von anderen aufgegriffen und wiederholt und breiten sich aus, wie ein Warnruf in einem Vogelschwarm. Der Schweiß auf seinen Lippen schmeckt nach Blut, die Bestie in seinen Händen bäumt sich ein weiteres Mal auf und schlägt gegen seine rechte Schulter. Er kann schlecht atmen, damals wie heute, in seinem Bett wie in der Hölle.

Also an die frische Luft. Es wäre nichts neues, wenn er sich bei diesem Spaziergang eine Erkältung einfinge. Frisch ist die Luft. Fühlen kann er davon nur wenig, weil die bösen Gedanken eine Blase um seinen Schädel gebildet haben wie ein Treibhaus, sodass er bei der steifsten Brise noch das Gefühl hat, zu ersticken. Er hat keine Platzangst. Eher im Gegenteil. Er kann mit dieser Pseudofreiheit nicht umgehen. Während die Menschen in Shopping-Laune sind, geht der Krieg ununterbrochen weiter. Man hat ihm gesagt, er würde sein Land verteidigen. Aber wer hier auf der Straße, den er gerade zufällig trifft, hat es verdient, dass andere sich für ihn die Hände schmutzig machen. Manche Menschen behaupten ja, Krieg sei eine Glaubensfrage. Für ihn ist es die Frage, wann die Menschen endlich aufhören, bloß auf Befehl eines anderen Menschen Leben zu nehmen. Familien zu zerstören. Im unmittelbaren Kampf stehen lediglich diejenigen, die sich nicht dagegen schützen, sich behaupten konnten. Zum Glück ist das auf beiden Seiten der Fall, ansonsten wären die Kämpfe relativ schnell vorbei. Der Zynismus steht ihm nicht.

Länder, welche keinen Krieg führen, unterstützen jene, die das für sie unternehmen. Kein Staat auf der Welt ist unschuldig. Das sagt ihm seine Lebenserfahrung, wissen tut er es nicht. Während er von der Bar sein erstes Glas Whisky holt, weiß er genau, dass es zugleich sein letztes heute sein wird. Er kennt viele, die sich ins Krankenhaus gesoffen haben. Das Problem ist nur, du denkst zwar insgesamt weniger, dafür immer noch denselben Scheiß. Weglaufen, verstecken, unterdrücken, ablenken, das alles bringt nichts. Ein Bekannter von ihm hat es mit Sex probiert, auch ein teures Hobby, je nachdem, wie man es anstellt. Er hat schon lange nichts mehr von ihm gehört, fällt ihm auf. Manchmal wünscht er sich, die Schmerzen wären ebenso physischer Natur. Dann fiele es ihm sicherlich leichter, die nicht registrierte SIG Sauer zu benutzen. Ein kleines Andenken. Im Krieg werden alle Beteiligten vom Psychoterror geplagt, da wäre es feige von ihm, sich aus dem Staub zu machen, bloß weil er nichts besseres mehr in seinem Leben vorhat.

Ein betrunkener Idiot rempelt ihn an, er hört das Zersplittern von Glas. Auf einmal ist er wieder mittendrin. Im Donner. Ihm ist zum Heulen zu Mute, doch niemand verzieht die Miene. Der Staub brennt in den Augen, seit Tagen wissen sie schon nicht mehr, auf wen sie überhaupt schießen. Es würde ihn kein bisschen wundern, käme am Ende heraus, dass sie die ganze Zeit ihre eigenen Leute bekämpft haben. Niemandem von ihnen ist klar, was wirklich gerade um sie herum abgeht. Moderne Aufklärungstechnik gibt es nicht, damit die Verantwortlichen alles leugnen können, falls etwas schiefläuft, sagt der Kommandant. Fakt ist, dass es längst nicht mehr nur zwei Seiten gibt. Armee, Separatisten, Söldner und nicht zuletzt die Einheimischen wollen mitreden bei der Verteilung neuer Verträge, Rechte, Privilegien. Bloß reden wollen sie nicht. Das ist das Dilemma.

Er weiß nicht, was passiert ist, sieht nur die aufgerissenen, vom Alkohol geröteten Augen vor sich und die hässliche Visage eines Idioten. Eines Idioten, dessen Freiheit er mit seinem Schlaf bezahlt hat. Und plötzlich hat die hässliche Fresse eine weitere, unschöne Asymmetrie und erleichtert strömt ein dumpfer Schmerz in seine rechte Faust. Wer hat sich seine Freiheit selbst verdient? Wer hat dafür persönlich gekämpft? Er ist kein Freund von Gewalt, doch plötzlich wird er von hinten festgehalten. Die Schreie verschmelzen zu einem unerträglichen Dauerton. Es gibt zwei Wege, wie das hier enden kann. Und in beiden Fällen wird die Polizei den Laden vorübergehend schließen müssen. Es ist ihm gleichgültig. Ein letztes Mal will er noch kämpfen. Und so gibt er sich dem Rausch hin, hört in den Schreien das Flüstern eines alten Bekannten: „Eins, zwei, drei, sieben Zimmer sind noch frei. Vier, fünf, sechs, die Angst ist ein Reflex. Sieben, acht, neun, du darfst den Sprung nicht scheu’n. Wirst du jetzt nicht ehrlich sein, belacht, erzürnt vom Dorfverein, wirst du es lebenslang bereu’n.“

Unwillkürlich erschlaffen seine Arme. Die Menge fällt über ihn her wie eine Horde hungriger Hyänen. Er denkt an die SIG Sauer. Sollte er hier lebendig rauskommen, wird er mit Verstärkung zurückkehren und dem Laden tüchtig einheizen. Dann wird das verwöhnte Pack erleben, was Freiheit ist. Doch so weit wird es nicht kommen. Strampelnd am Boden versucht er noch, sich die Meute vom Hals zu halten. Da blitzt unter dem Barhocker zu seiner Linken ein alternativer Weg auf. Eine letzte Chance. Oh Mann, wird er den Donner vermissen und das Elend. Er ist kein Zyniker.

Hinter dem Horizont gibt es keinen Donner. Mit letzter Kraft entzieht er sich dem tosenden Chaos. Es gibt keinen Knall, keine Rauchwolken, kein Hokuspokus. Es war eine Entscheidung, hinter den Horizont zu flüchten. Seine Entscheidung. Jetzt ist er der Meinung, ein Schluck Wasser aus der Quelle vor ihm täte vielleicht gut. Der Himmel hat sich geklärt. Tausende helle Punkte senden ihr fahles Licht auf die Erdoberfläche. Ansonsten ist es dunkel.

Eine Sekunde später registriert er, dass er nicht allein ist. „Na, kannst du auch nicht schlafen?“, fragt ihn der ältere Mann aus dem Schatten einer großen Trauerweide, auf dessen gewaltigen Wurzeln er sitzt. Er kennt Männer wie diesen. Sie setzen Alter mit Lebenserfahrung gleich, posaunen in alle Welt, dass es keiner mit ihnen aufnehmen kann.

„Habe ich mich überhaupt vorgestellt? Ich glaube nicht, dass wir uns schon begegnet sind. Du wirst dich kaum für meine Geschichte interessieren, hier nennt man mich Quinn und ich vermute, jetzt sollte ich dir sagen, wie sehr ich mich freue, dass du da bist.“

Der Alte macht eine Pause. Zum ersten Mal stellt er sich die Frage, ob er überhaupt hierher passt. Sein Kommen war ein Notfall, eindeutig, er jedoch nicht gerade unschuldig. Ein Ort wie dieser sollte denen vorbehalten sein, die nicht getötet, keine Familien zerstört haben.

„Ich bin Jesko“, kommen die Worte von selbst aus seinem Mund. Unschlüssig tritt er an die Quelle heran. Aus dem Stockdunkeln hinter dem Vorhang tief hängender Weidenzweige ist ein leises Schnarchen zu vernehmen. Er nutzt den unbeobachteten Moment und taucht sein komplettes Gesicht ins eiskalte Nass, spürt das Kribbeln in seiner Haut, welches sich allmählich in seinen restlichen Körper ausbreitet. Er nimmt den Kopf wieder hoch und blickt in einen milchig blauen Himmel, in dem lediglich vereinzelt noch sichtbare Sterne verblieben sind. Dieses unspektakuläre Bild in seiner Spontanität des Erscheinens ist so bewegend, dass es tief in ihn eindringt und kaum merklich sein Herz einmal streift. Er schaut weiter über die Wiese, wo die rasch aufgehende Sonne lange Schatten wirft. Der mit Abstand längste Schatten führt zu einer Art Blockhütte, gezimmert aus rohen, dunklen Stämmen, die mindestens doppelt so alt sind wie er. Fasziniert nähert er sich dem überraschend gut erhaltenden Gebäude. Im ersten Stock wird ein Fensterladen geöffnet und das nächste, was er sieht, ist ein dünnes, langes Mädchen im Nachthemd, nicht älter als 14, das ihn mit einer solchen Ehrlichkeit anlächelt, dass etwas in ihm aufbricht und er jenes Gefühl seit Ewigkeiten wieder fühlt, welches er verdrängt, vergessen, ja fast gefürchtet hat. Hoffnung.



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