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Hinter dem Horizont


Text/Abbildungen:
Jonathan Püttmann
Geschrieben: Oktober 2019
Hochgeladen: 05.02.2020
Länge: 13294 Wörter
Genre: Märchen
Seite 6
A205

Wir, hinter dem Horizont


Der Tapfere
Sprung ohne Fallschirm

Er nennt sich „Die Rote Faust“. Risiko ist sein Element. Kein Projekt ist ihm zu heiß. Feuer fließt durch seine Adern, in seinen Augen flackert der Wahn. Be­ziehungen zu anderen Menschen auf­zubauen fällt ihm schwer, wobei das in der Regel nicht an ihm liegt, das ist sicher. Was soll er auch sonst sagen?

„Hey, was machst du so in deiner Frei­zeit?“

„Ich betreibe Suizidal­sport. Das ist sozusagen Fall­schirm­springen, bloß ohne Fall­schirm.“

Die Gefahr ist sein Zuhause. In ihr fühlt er sich geborgen. Dabei springt er nicht nur von Klippen, Türmen und aus Flug­zeugen. Nachdem er mit 15 die Schule geschmissen hatte und Extrem­kletterer geworden war, hat er sich in einer Vielzahl von Sport­arten ausprobiert und mit seinen Videos im Internet mehr Auf­merksam­keit erregt, als ihm lieb war. Heute kann er gut von den Klicks leben, durch­streift die Innenstädte bloß noch nachts, auf der Suche nach der ultimativen Heraus­forderung. Er ist kein selbst­süchtiger Mensch, einmal hat er sogar jemandem das Leben gerettet. Das ist beim Training passiert, auf einmal stand da auf dem Dach dieser Junge, der so aussah, als wollte er jeden Moment springen. Er hat sich ruhig neben ihn gestellt, ihm gesagt, dass er niemals über Asphalt springt, da die Chance besteht, dass man mit den Füßen zuerst aufkommt und sich über 100 Knochen bricht, ohne letztendlich zu sterben. Gegenüber leuchtete das goldene Logo irgendeiner Bank, es war eine herrliche Nacht. Eine Woche später hat er ihn im Kletterladen beim Kauf eines Seils gesehen. Also hat er doch noch ein Hobby gefunden.

Es gibt die normalen Amateursportler, die halbwegs professionellen Leistungssportler und die Extremsportler. Und dann noch Sportler wie ihn. Sie sind eine kleine, aber gut vernetzte Gruppe, von denen die meisten jederzeit mit der Zwangseinweisung in eine Klinik rechnen müssen. Sie leben für das Adrenalin. Ohne Hemmungen. So weit, dass sie die regelmäßigen Verletzungen genießen, ist es noch nicht, eher betrachten sie sie als notwendiges Übel. Allgemein müssen nur drei Regeln befolgt werden, dass sich ein Außenstehender als einer von ihnen bezeichnen darf: Keine Sicherung, keine Limits, kein Leichtsinn. Wäre der Junge damals gesprungen, wäre das leichtsinnig gewesen. Wäre er mit Schirm gesprungen, wäre er gesichert gewesen. Hätte er sich ein kleineres Gebäude gesucht, hätte er sich damit unweigerlich ein Limit gesetzt. Kurz gesagt: Man muss jederzeit genauestens wissen, was man tut. Er persönlich hat sich längst damit arrangiert, dass er eines Tages zum letzten Mal springen wird. Deshalb liebt er überhaupt diesen Sport. Manche Menschen werden zerfressen von der Grübelei, ob sie nun an Depression, Krebs oder Altersschwäche sterben werden. Er dagegen kann sich stets sicher sein, dass es eines Tages soweit ist, er paralysiert von Glücksgefühlen abtreten wird. Eine einzige Sache hält ihn davon ab, es einfach drauf ankommen zu lassen und unbesorgt alt zu werden. Heroin und Adrenalin haben gemeinsam, dass man mit der Zeit abstumpft gegen die anfangs so großen Gefühle und folglich immer mehr braucht, um sich auf seinem Level zu halten. Ansonsten droht der Absturz. Nach 15 Jahren in dieser Szene hat er vor nichts so große Furcht wie vor einem Entzug. Deshalb legt er Monat für Monat eine Schippe drauf, ohne dass er an Fitness, Technik oder Kondition zulegt oder sein Körper auf andere Weise leistungsfähiger wird. Bis jetzt hat er es geschafft, die perfekte Balance auf dem schmalen Grad zwischen kalkuliertem Risiko und Wahnsinn zu halten. Sollte am heutigen Tag damit Schluss sein?

Sein Vorhaben ist mehr als bloß sportlicher Natur. Es ist in jeder Hinsicht eine Herausforderung. Dazu der ultimative Kick. Lediglich mit dem zu erwartenden Endergebnis hadert er. Leichtsinn ist es nicht, denn sein Triumph steht durchaus in angemessenem Verhältnis zum Risiko. Egal wie es für ihn ausgehen wird, seine Actioncam wird alles aufgezeichnet haben, den Absprung, die atemberaubende Gleitphase, den Aufprall. Hundertprozentig wird er in die Nachrichten kommen. Ob er kurz vorher den Notruf wählen soll, damit sein Leichnam auch in einem Stück geborgen wird? Heiß glitzert das Sonnenlicht auf gekräuselten Wellenbergen. Unter seiner Haut kocht das Blut vor Eifer und Tatendrang. Kalt kitzelt unter seinen Füßen die Angst, er könnte einen Rückzieher machen. Nachdem er sein Vorhaben so groß in den Sozialen Medien angekündigt hat. Einen Moment steht er unschlüssig an der Klippe und denkt an die nötigen Aufwinde, da fliegt über seinen Kopf hinweg eine keifende Seeschwalbe. Ohne dass er etwas dagegen tun kann, formen sich ihre schrillen Rufe in seinem Kopf in deutliche Worte um: „Eins, zwei, drei, fünf Zimmer sind noch frei. Vier, fünf, sechs, die Angst ist ein Reflex. Sieben, acht, neun, du darfst den Sprung nicht scheu’n. Wirst du jetzt nicht ehrlich sein, im tropisch heißen Sonnenschein, wirst du es lebenslang bereu’n.“

Am besten macht er sich keinen großen Kopf mehr und springt einfach, sagt er sich, da blitzt unter ihm am Strand im funkelndem Sonnenlicht ein alternativer Weg auf. Nein, zurück kann er nicht mehr. Aber was ist daran verwerflich, die Methode einmal zu überdenken? Die Schwalbe hatte Recht. Kurz entschlossen – halb kletternd, halb springend – stürzt er sich die Klippe hinunter, eilt über den Strand zu dem neuen Weg. Den Medienhype und das Blitzlichtgewitter um seine Person wird er vermissen. Andererseits muss man auch manchmal egoistische Entscheidungen treffen.

Hinter dem Horizont gibt es weder Risiko noch eine Sucht danach. Er gibt sich dem hellen Licht hin, lässt sich von ihm tragen, bis er neuen Boden unter den Füßen spürt. Es fühlt sich an, als hätte etwas, oder jemand, eine erhebliche Last von seinen Schultern genommen. Tatsächlich hat er irgendwo auf der Strecke zwischen dem Strand und diesem Ort seinen Wingsuit verloren, weshalb er nun in nichts als einer Unterhose vor der Blockhütte steht und mit gemischten Gefühlen feststellt, dass weit und breit in der Landschaft keine nennenswerten Erhöhungen zu sehen sind.

Aus dem Haus sind Stimmen zu hören, doch er wagt nicht anzuklopfen, sondern schleicht lautlos durch die zum Glück lediglich angelehnte Tür ins Hausinnere. Daraufhin steht er in einem kurzen, breiten Flur, ähnlich einer geschrumpften Eingangshalle. Am hinteren Ende blickt er durch einen Türspalt in die Küche, wo ein älterer Mann summend Kartoffeln schält. Links geht es offensichtlich ins Wohnzimmer, durch die dünne Holzwand erkennt er zwei Frauenstimmen, die sich in einer Sache nicht einig werden. Als plötzlich die Haustür hinter ihm ein weiteres Mal aufgeht, kann er sich gerade noch rechtzeitig in die Nische zwischen Wand und Marmortreppe zwängen, bevor ein großer und breitschultriger Mann mit kurzem blondem Haar und Dreitagebart durch den Flur in die Küche geht.

„Hi Quinn, ich helf’ dir kurz, ja?“, hört er seine dunkle Stimme und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen bei dem Gedanken, dass der bullige Typ von vorhin jetzt Gemüse putzt. Dann konzentriert er sich wieder und verlässt mit leisen Schritten sein Versteck. Im Erdgeschoss kommt er nicht weiter, ohne entdeckt zu werden. Also die kalten, eisglatten Stufen hoch.

„Ah, du bist schon da! Hast den Weg allein gefunden. Ich habe eben dein Bett bezogen. Komm, ich geb’ dir was zum Anziehen.“, sagt der wie aus dem Nichts aufgetauchte junge Mann mit dem Durchschnittsgesicht und dem ungebügelten Karohemd. Er öffnet eine der Türen, vermutlich jene, aus der er eben so überraschend erschienen ist, und zeigt ihm sein neues Zimmer, vor dessen Fenster eine Schale voll Narzissen blüht. Auf dem minimal gepolsterten Stuhl neben dem Bett liegt ein Stapel Klamotten, die so aussehen, als könnten sie ihm passen.

„Ich heiße übrigens Naci.“, sagt Naci. „Wenn du irgendwelche Wünsche oder Fragen hast, kannst du dich jederzeit an mich wenden.“

„Ich bin Andre.“, antwortet er. Es ist lange her, dass er seiner eigenen Stimme so entspannt lauschen konnte. Naci nickt ihm freundlich zu und verlässt den Raum. Während er sich anzieht – er entscheidet sich ebenfalls für ein kurzärmliges Hemd, dazu eine schwarze Hose – denkt er daran, dass er ohne seinen Sport viel Zeit haben wird und er sich dringend ein neues Hobby suchen muss. Allmählich wird ihm bewusst, warum er diesen Weg genommen hat, er weiß einfach nicht, wer er ist. Überaus bedauerlich, dass er erst jetzt zu dieser Erkenntnis gelangt. Andererseits wird er wohl hier die besten Voraussetzungen vorfinden, um der Frage nachzugehen. Es klopft an der Tür.

„Es ist also wahr. Ein weiteres Zimmer wurde besetzt. So langsam wird es kuschelig in diesem Haus. Ich heiße Clio.“, begrüßt ihn die dunkelhaarige, etwas rundliche Frau Ende 30, die ihm merkwürdig bekannt vorkommt. Und das liegt nicht daran, dass er ihre Stimme bereits zum zweiten Mal an diesem Tag hört.

„Mir ist unbegreiflich, wie Naci noch mehr Menschen aufnehmen kann, obwohl wir jetzt schon nicht wissen, was wir in diesem Haus tun sollen.“

Da ist er anderer Meinung: „Hat er dich nicht auch aufgenommen? Jeder Mensch hat gleichermaßen das Recht, hierherzukommen. Was du hier mit deiner frisch gewonnenen Zeit anfängst, liegt allerdings in deiner Verantwortung. Diese Weisheit kann ich dir aus meiner Erfahrung mitgeben. Eine Wahl zu haben ist ein Privileg. Egal wie du wählst, du kannst es falsch oder richtig machen. Zu denken, die Konsequenzen würden nur einen selbst betreffen, ist egozentrisch. Und damit kenne ich mich aus.“



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