Wir, hinter dem Horizont
Der Träumer
Vierzig Kilogramm pure Kraft und Effizienz lasten auf seinen Schultern. In langsamen, fließenden Bewegungen reagiert er auf die zaghaften Fluchtversuche seines Schützlings und sorgt dafür, dass die massive Mitte des viereinhalb Meter langen Körpers unter seiner fachkundigen Kontrolle bleibt. Kalt und treuherzig blicken die schwarzen, schlitzförmigen Augen des Tigerpythons in seine. Eine Beziehung beidseitigen Vertrauens. Es wäre ein Leichtes für die in Gefangenschaft aufgezogene Riesenschlange, seinen Brustkorb zu Brei zu quetschen, aber sie tut es nicht. Gleichzeitig könnte er eine günstige Gelegenheit abwarten und dem Reptil mit dem Killerinstinkt eins über den Schädel ziehen. Er tut es nicht. Wer ein wenig von Terraristik versteht, der weiß, dass ein Reptil in aller Regel kein geeignetes Selbstmordinstrument ist. Und wer hat schon das Glück, mit einer Klapperschlange oder einer Königskobra die Wohnung zu teilen. Er hätte sich einen Hund kaufen sollen, da ist die Chance eines „Unfalls“ noch am größten.
Jeder zweite Selbstmörder erhängt, beziehungsweise erstickt sich. Saubere Angelegenheit, dauert ihm persönlich aber zu lange. Außerdem ist es die Methode von Häftlingen, Pflegefällen und kleinen Kindern. Er möchte als er selbst gehen, in Würde und ohne Sauerei. Die Idee bekam er letztes Jahr im Urlaub in Südamerika. Einfach in den Dschungel hinein und nie wieder heraus. Die Natur vergeudet keine Ressourcen. Er hat zu lange gezögert damals und nun, zurück auf der Nordhalbkugel, wird er schneller verhungern als im Wald auf ein Tier stoßen, das willig und fähig ist, ihn zu töten.
Er setzt den Python zurück ins Terrarium und geht weiter durch die Verbindungstür in die Garage. Hier wohnt das zweite wilde Tier des Hauses, kein Panda, kein Mustang, sondern der alte, silberne Jaguar seines Vaters. In ihm würde er gerne sterben, aber das kann er seinen Eltern nicht antun. Nebenbei ist die Gefahr im Auto am höchsten, andere unbeabsichtigt mitzureißen.
Jeder zehnte springt in die Tiefe und fast jeder fünfzehnte vor ein Auto oder einen Zug. Beides sind sehr unappetitliche Szenarien für diejenigen, die einen danach vom Asphalt kratzen müssen. Ebenso der klassische Kopfschuss. Und Vergiften ist nicht sein Stil. Piranhas sind eine elegante Lösung, aber auch an die muss man erst einmal kommen. Perfekt wäre natürlich, vom Blitz erschlagen zu werden und irgendwo im Wald dann friedlich zu verwesen, eventuell einem Wolf durch den Winter zu helfen. Aber das ist utopisch.
Hemmungslos tritt er aufs Gas. Der graue Schlitten macht ächzend einen Satz nach vorne und schiebt sich dann überraschend stabil um die Kurve. Er fährt schnell. Alles andere ergäbe keinen Sinn. Privilegiert geboren hat er seit einigen Jahren zunehmend den Eindruck gewonnen, überflüssig zu sein. Als Jugendlicher hat er es ordentlich krachen lassen, den Vertrauensvorschuss seiner Eltern gründlich verzockt, nun sucht er nach einem Weg, die Welt in der Form zu verlassen, in der er sie betreten hat: vermögend, gesund, zufrieden, gerne mit einem Hauch von Ironie. Kein Hass, kein Bedauern, keine Depression. Irgendwann sterben alle Menschen, er möchte etwas früher. Tiefsinnig lauscht er dem anhaltenden Brummen seines Gefährts. Und als hätte er es provoziert, zischt ihm der rauschende Fahrtwinde aufmunternd zu: „Eins, zwei, drei, zwei Zimmer sind noch frei. Vier, fünf, sechs, die Angst ist ein Reflex. Sieben, acht, neun, du darfst den Sprung nicht scheu’n. Wirst du jetzt nicht ehrlich sein, in Hemd und Fliege, frech und fein, wirst du es lebenslang bereu’n.“
Er sieht die sich rasch aufstauenden Fahrzeuge vor sich und widersteht dem Impuls, den Fuß auf das Bremspedal zu setzen, da blitzt links von ihm eine alternative Abfahrt auf. Morgen wird der Zoo seinen Tigerpython abholen. Ab morgen ist sein Terminkalender bis zum Jahresende leer. Das gute Auto soll noch eine Chance bekommen, denkt er und reißt das Lenkrad herum. Der Sicherheitsgurt schnürt ihm das Blut ab, seine Finger jedoch lassen nicht vom Lenkrad ab. Hinter dem Horizont ist kein Ort für einen Jaguar. Es gibt einen kräftigen Ruck, der beinahe den Fahrersitz aus der Verankerung reißt, holpernd machen die Räder noch ein, zwei Umdrehungen, dann steht er. Das Gummi tief in den ungepflegten Rasen eingegraben; dezent schnaufend gibt ihm der Motor zu verstehen, dass er zu Fuß weitermuss.
Glücklicherweise ist er mit seinem Edelgefährt gerade einmal 50 Meter von einem imposanten Blockhaus gestrandet, welches den Anschein erweckt, bewohnt zu sein. Weiter rechts entdeckt er einen großen, schlanken und freistehenden Torbogen. Einerseits gewissermaßen deplatziert ohne erkennbare Fortführung eines befestigten Weges oder einer Begrenzung, zugleich jedoch von einer ungemeinen Ästhetik, die dazu einlädt, näher heranzutreten. Angezogen von der fabelhaften Architektur und einem unnatürlich hellen Glitzern an den Rändern läuft er langsam, immer schneller werdend, wie hypnotisiert auf den geheimnisvollen Durchgang zu.
… Es ist mehr als ein Geheimnis, mehr als ein nur Traum. Mehr als die eine Frage nach Unendlichkeit im Raum. Weder böse noch gut, niemand kehrt je zurück. Mit dem eigenen Blut zahlt man die Suche nach Glück …
„Du willst uns doch nicht schon wieder verlassen!“, ruft auf einmal eine männliche Stimme hinter ihm. Er bleibt stehen, wirft einen letzten Blick auf den faszinierenden Torbogen, dreht sich um. Der Mann mit dem blauen T-Shirt, Aufdruck
„Den, der zu sterben wünscht, lässt der Tod niemals im Stich“, ist ihm tatsächlich nachgelaufen. Er macht einen durchaus anständigen Eindruck, was vermutlich daran liegt, dass er trotz seines jugendlichen Äußeren eine gewisse Ausstrahlung besitzt, die sich guten Gewissens als vernünftig bezeichnen lässt.
„Hatte ich denn überhaupt beabsichtigt herzukommen?“, entgegnet er spitz.
„Das steht außer Frage. Viele Menschen wollen kommen und alle haben eine zweite Chance verdient. Wir zeigen ihnen nicht den richtigen Weg, aber einen möglichen. Sterben ist keine einsame Angelegenheit und diesen Grundsatz leben wir. Möchtest du dein Zimmer jetzt beziehen?“
Er nickt, da fällt ihm auf, dass er noch gar nicht den Namen seines Gegenübers kennt.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragt er ihn betont beiläufig.
„Ich heiße Naci.“, antwortet der junge Mann lächelnd, so als wüsste er bereits seinen Namen.
„Ich bin Sanel.“, sagt er dennoch. Diesen Satz muss er in den nächsten zehn Minuten noch sieben weitere Male sagen, bis er, in seinem Zimmer angekommen, sämtliche Bewohner kennengelernt hat. Er zieht sich um und stellt bei der nachfolgenden Erkundung der Räumlichkeiten fest, dass die Kornblumen vor seinem Fenster unbedingt Wasser benötigen.
„Warum haben wir eigentlich kein fließendes Wasser im Haus?“, fragt er in der Küche Aaina, von der er weiß, dass sie mit am längsten hier wohnt. Sie zuckt mit den Achseln und reicht ihm einen Plastikkanister mit Quellwasser.
„Vermutlich würde es nicht passen.“, antwortet sie leichthin.
„Dann dürfte die Marmortreppe aber auch nicht da sein. Die passt nämlich ganz und gar nicht.“
„Die Treppe erinnert uns daran, wo wir sind und dass es einen Grund gibt, wieso wir hier sind. Sie zeigt uns mehr als unser Spiegelbild, denn im Spiegel können wir uns selbst betrügen. Der Marmor hält uns die Wahrheit vor Augen, nämlich dass wir zarte, verletzliche Seelen sind, die sich in der Dunkelheit verirrt haben und einen Weg zurück ans Licht suchen.“
Mit dieser Information geht er zurück in sein Zimmer, gießt die Kornblumen, legt sich aufs Bett und denkt darüber nach, was Naci ihm erzählt hat. Über das Tor vor dem Haus, welches den Ausgang markiert für alle, die ihre zweite Chance abgeben wollen. Bis jetzt ist noch niemand hindurchgegangen, auch wenn sich regelmäßig jemand beschwert, dass das Leben zu seicht, zu klein, zu langweilig ist. Naci zufolge wird auch niemand in naher Zukunft hindurchgehen, denn der Torbogen ist zugleich ein Symbol für Abgrenzung, Härte und Egoismus.
„Niemand ist immer glücklich, aber jeder trägt die Verantwortung für sich. Das Besondere an diesem Ort ist, dass zusätzlich jeder ein Stück Verantwortung für die Gemeinschaft trägt und zwar freiwillig und bewusst.“, hat er gemeint. Er ist sich sicher gewesen, dass er noch an diesem Abend als erster durch das Tor gehen und ans Ziel seiner Träume gelangen wird. Nun neigt sich die Sonne dem Horizont entgegen und hier, im Haus hinter dem Horizont wie draußen auf der Wiese, wo dreckig und verschlammt der teure Jaguar seines Vaters steht, hinten an der Quelle und der großen Trauerweide, wo Quinn sitzt und sich an seine Frau erinnert und dem spärlichen Wald dahinter, legt sich ein hauchdünnes Tuch des Inneren Friedens über alles Leben und hält es warm, bis es am nächsten Morgen von den ersten Sonnenstrahlen wieder abgelöst wird. Das ist Freiheit, denkt er im Stillen. Wir sind frei.
„Eins, zwei, drei, ein Zimmer ist noch frei…“