ich
hintergrund

Tausch


Text/Abbildungen:
Jonathan Püttmann
Geschrieben: Juni 2019
Hochgeladen: 12.02.2020
Länge: 3800 Wörter
Genre: Fantasy
Seite 3
A204

Tausch


Rache

Zunächst muss ich die Leiche an einen sicheren Ort bringen. Und ich habe auch schon eine Idee, wo dieser sein wird. Ich verlasse das Wohnheim und steige in mein Auto. Mit summendem Motor und knirschenden Reifen startet der Wagen seinen Weg über den ausgedehnten Parkplatz. Unauffällig reihe ich mich in den Mittagsverkehr ein und nehme die erste Abzweigung Richtung Stadtrand. Dann plötzlich quietschende Reifen, knapp 100 Meter vor mir, ein schwarzer Peugeot beschleunigt und hält auf den Zebrastreifen zu, wo einsam und hilflos eine alte Frau steht. Ich höre keinen Aufprall, sehe nur das schwarze Auto um die Ecke biegen, allgemeines Entsetzen hinterlassend, auf der Straße verblieben eine zerrissene Einkaufstasche. Wenige Sekunden später verschwindet der Schauplatz auch aus meinem Rückspiegel, aber ich habe genug gesehen.

Vor zwei Tagen noch hätte ich mich als glückliche und zufriedene Person bezeichnet, die die Fügungen des Schicksals zu schätzen weiß. Heute kenne ich keine Gefühle mehr, keine Trauer, keine Wut, nur noch Schwere. Ein Betonklotz, groß wie ein Pkw, zieht mich in den weichen Sumpf herab, ein bodenloses feuchtes Erdreich, welches sich voller Süße an meinen Körper schmiegt.

Das Spiel hat begonnen. Von jetzt an blicke ich mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit um, ob ich verfolgt werde. Ruhelos. Jeder ist ein potentieller Feind. Im Radio wird nach dem fahrerflüchtigen Attentäter gefahndet, doch die Chancen stehen schlecht, der Peugeot war gestohlen. Sollte ich mich bei der Polizei melden – als Zeuge? Mitten bei der Fahrt vibriert mein Handy und sofort weiß ich, dass er es ist. Nicht er selbst, aber einer seiner Boten. Ich fahre rechts ran.

„Abends, irgendwo, wo man keine Schreie hört.“, hat mir die fremde Nummer geschrieben und: „So geile Titten findet man selten.“ Darunter ein Foto einer jungen, hübschen Frau mit im Wind wehenden blonden Haaren. Für eine Sekunde bin ich zu schockiert, um zu reagieren. Dann schlage ich mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Das ist die Lösung! Seine Unberechenbarkeit, die es mir unmöglich machte, einen Plan gegen ihn zu schmieden, hat einen entscheidenden Schönheitsfehler bekommen. Ich richte den Blick an die Decke des Autos, doch eigentlich schaue ich durch die Wand durch in den Himmel. Jemand da oben steht auf meiner Seite, ansonsten kann ich mir diesen Zufall nicht erklären. Ich weiß genau, was zu tun ist. Die Frage ist, ob ich mir das Passwort für mein E-Mail-Konto irgendwo aufgeschrieben habe.

Wieder zuhause setze ich mich umgehend an den Computer. Ein letztes Mal rufe ich die Seite auf, mit der alles angefangen hat. Kann man dem Tod die kalte Schulter zeigen? Patrick hatte Recht: Es geht um Macht, doch diese geht nicht unbedingt von den Autoren aus, sondern vielmehr von den Worten selbst. Hätte ich diesen einen Satz nicht gelesen oder anders verstanden, wäre alles anders gekommen. Jetzt ist es an mir, herauszufinden, ob es der Mensch tatsächlich mit dem Tod aufnehmen kann. Dabei hängt alles von einer einzigen Mail ab. In den Optionen suche und finde ich den Button „Zeitverzögertes Abschicken der Nachricht“ und setze die Zeit auf kommenden Freitag, 18:05 Uhr. Danach klicke ich auf „Senden“, versichere mich nochmal, dass die Nachricht wirklich im Posteingang stecken bleibt und ändere vorsorglich das Passwort für meinen Account. Patrick, oder besser gesagt derjenige, der mittlerweile für ihn spricht, wird meinen Körper und meine Fähigkeiten übernehmen, nicht aber meine Erinnerungen.

Um 15 Uhr gehe ich wie gewohnt in die Vorlesung und setze mich vorne in die vierte Reihe, wo alles auf einmal klar und verständlich wird. Das Handydisplay leuchtet auf, ich habe den Vibrationsalarm ausgeschaltet. Katrin fragt mich, ob wir abends gemeinsam in die Mensa gehen wollen. Ich sage zu. Sollte ich mich von ihr verabschieden oder sie gar vor meinem neuen Ich warnen? Mir schlägt der Schweiß aus, doch nicht, weil es zu warm ist, sondern weil ich Angst habe. Wie geht man zu Bett, wenn man weiß, man wacht nicht mehr auf? Eigentlich ist es ganz einfach: Man legt sich hin, schließt die Augen und denkt an grüne Wiesen, frisches Heu, Sonnenschein. Man denkt nicht an die Sorgen der letzten Tage, nicht an den Schmerz des Lebens, erst recht nicht an gute oder schlechte Horrorfilme. Und schon ist man glücklich.

Ein grelles Licht flammt vor meinen Augen auf. Ich bin tatsächlich eingeschlafen. Vorher noch den Laptop an die Steckdose gehängt, damit die E-Mail auch Freitag versendet werden kann und den Brief vernichtet, den Patrick in seiner Wohnung hinterlassen hatte. Nun stehe ich hier und warte. Das weiße Tor am Ende des Tunnels habe ich mir irgendwie größer, gewaltiger vorgestellt, aber es ist ganz nett. Ich hätte mir noch Engel dazu gewünscht, die meinen Übergang in das andere Reich musikalisch untermalen. Vielleicht muss man für diesen Service extra zahlen oder auf Erden gute Taten vollbracht haben.

Zwischen den Pforten erscheint eine dunkle Silhouette. Es ist Patrick, wer sonst. Ich habe Stolz, Triumph und Übermut in seinen Augen erwartet, doch mir gegenüber steht der nüchtern und rational handelnde Student, wie ich ihn vor über einem Jahr kennengelernt habe. Das andere Gesicht hat er gut verborgen, vermutlich hatte ich Glück, dass er in meinem ersten Traum so leicht aus der Fassung zu bringen war.

„Was willst du?“, beginnt er, den Handel mit mir abzuschließen.

„Du versprichst, niemandem in meinem Umfeld weh zu tun. Besonders nicht jenen, die du einst ebenfalls in Schutz genommen hättest.“

„Das ist alles?“

„Ich habe einen Bonus für dich. Du triffst sie diesen Freitag um sechs, hinten in unserem Garten am Bach, wo wir letztes Jahr immer gegrillt haben. Mir egal, was du mit ihr machst, Hauptsache, du lässt mich ab jetzt in Frieden. Ich will reinen Tisch, verstehst du?“

„Klar. Ich hatte sowieso vor, aus der Stadt zu verschwinden. Samstag Morgen werde ich mir am Bodensee ein kleines Zimmer mieten, du hast doch nicht in der Zwischenzeit dein Auto zu Schrott gefahren?“

„Die Motorhaube hat eine kleine Beule, keine Ahnung, wie das passiert ist.“

„Gut. Also nicht gut, aber ich werde drüber hinwegsehen. Wenn sonst nichts ist …“

„So sympathisch bist du mir auch wieder nicht.“

„Dann ist gut. Du mir übrigens auch nicht.“

Wir gehen aufeinander zu, er streckt seine Hand aus und ich ergreife sie. Ein kaltes Zucken durchfährt meinen Körper. Dann fühle ich mich nur noch leicht und kann es kaum abwarten, meinem Wohltäter zu begegnen, mit dessen Hilfe ich es geschafft habe. Etwas, das vor mir noch keinem gelungen ist. Ich schwebe auf das Licht zu und wage es, einen Blick über die Schulter zu werfen. Ich weiß genau, dass diese Reise nicht unumkehrbar ist. Meine Finger ziehen feine Furchen durch weiche Wolkenfetzen und ich genieße das Gefühl, nicht zu wissen, wo ich bin, bis ich die Augen öffne.

Anmerkungen: keine