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Über die Alpen


Autor: Jonathan Püttmann
Bilder: Niklas Spiller
Hochgeladen: 19.12.2020
Textart: Bericht
Kategorie: Reisen
Länge: 17314 Wörter
Seite 6
A415

Alpenüberquerung 2016


Der nächste Morgen
Lizumer Hütte - Tuxerjochhaus

Strecke: 11km; Höhenmeter: 1100hm hoch, 850hm runter

Etwas später als am Vortag, doch immer noch vor Sonnenaufgang wurden wir geweckt und nach draußen getrieben. Da die Lizumer Hütte deutlich teurer als unsere anderen Stationen war, mussten wir auf ein serviertes Frühstück verzichten. Wir warteten draußen auf der Terrasse neben der großen Hundehütte auf die letzten Nachzügler und liefen einige hundert Meter den Hang hinauf, bevor wir uns bereits wieder niederließen und unser mitgebrachtes Frühstück auspackten. Rechtzeitig schaffte ich es, mein Brot auf den Haufen zu werfen, wodurch ich diesen Tag ganze 500 Gramm weniger zu tragen hatte. Mittlerweile hatte ich mich an den eintönigen Geschmack von Mischbrot mit Fake-Nutella aus der Tube gewöhnt und aß willenlos die obligatorischen zweieinhalb Schnitten Ration. Unser Wirt hatte Wolken und Regenschauer angekündigt, weshalb sich niemand von uns eingecremt hatte, doch der Himmel war tiefblau und die ersten Berggipfel waren hellrot erleuchtet von der aufgehenden Sonne.

Zügig ging es weiter, es war ziemlich frisch und so hofften wir auf Wärme durch Bewegung, bevor die Sonne unser Frösteln ganz beendete. Erstmals bekam Felix mit dem karierten Halstuch und den langen Haaren Probleme beim Laufen. Genau weiß ich es nicht mehr, aber er klagte sowohl über die allgemeine Anstrengung als auch über seine Wanderschuhe. Trotzdem versuchte Josua so gut es ging, das Tempo hoch zu halten, denn wir waren noch immer in Sichtweite der Hütte. Erst oben auf dem Sattel wurde wieder eine längere Pause eingelegt. Von dort hatten wir eine der besten Aussichten der ganzen Reise. Vor uns setzte sich das grün-braune Bergland fort, jedoch etwas steiniger und schroffer, die Felsen wurden spitzer, die Anstiege steiler. Unten ein blauer See, in dem wir spontan beschlossen schwimmen zu gehen (falls das Wetter hielt) und hinten die alles überragende Gletscherkulisse. Hier entstand auch das Bild für die spätere WhatsApp-Gruppe. Die Friesenberg­scharte schien kein Stück näher, dabei waren wir einen halben Tag darauf zu gewandert.

Beeindruckende Kulissen In Erwartung der baldigen Badepause liefen wir gut gelaunt den steilen Weg nach unten. Unten angekommen beschlossen wir, die Mittagspause etwas vorzuziehen, doch der Himmel hatte sich leicht bewölkt und ein frischer Wind vertrieb uns die Lust am Schwimmen. Christian zog sich als einziger um und wärmte im Unterarmstütz seine Muskeln auf. Josua legte seine Uhr ins Wasser, wo sie erstmals zuverlässig die Temperatur messen konnte, auch wenn es mehrere Minuten dauerte, bis sich das Gehäuse weit genug abgekühlt hatte. Letztendlich blieb die Anzeige bei circa 8 Grad stehen. Tatsächlich schaffte es Christian, zweimal den kompletten See zu durchqueren, bevor er schnell wieder aus dem Wasser stieg und sich abtrocknete. Wir anderen genossen während­dessen im spärlichen Sonnenschein unsere Pesto­brote mit Salami.

Nach der Pause führte uns ein schmaler Pfad auf ein steiles Geröllfeld, wo man kaum erkennen konnte, ob man sich noch auf dem Weg befand. Wo man nur hinschaute Geröll, wir waren endgültig im Nirgendwo angekommen. Die Rücksäcke drückten, das Laufen war beschwerlich. Als wäre das nicht genug, kam gegen Ende des Geröllfelds noch ein ziemlich steiler Anstieg, auf dem besonders der rutschige Untergrund ein großes Problem darstellte. Wieder führte Lena die Gruppe an und so krochen wir Stück für Stück im Abstand von nur wenigen Metern hintereinander den Hang hinauf. Oben angekommen hatten wir einen 360 Grad Rundumblick über die graugrüne Hügellandschaft, aus der wir seit Tagen niemals hinauszukommen schienen. Zur allgemeinen Freude war unser heutiges Etappenziel bereits in Sichtweite und wir verschwendeten keine Zeit und liefen umgehend weiter.

Es begann ein echt steiler Abstieg. Auf dieser Seite des Berges war allerdings das Gras noch frisch und saftig, ein hübscher Wasserfall untermalte die Landschaft mit seinem unablässigen Rauschen. Das Tempo war zügig, einigen schien das aber nicht zu reichen, unter ihnen waren Felix und Christian, und sie rannten beinahe die Serpentinen hinunter. Dabei warf Christian seine beiden Stöcke weit nach vorne und sprang, sich wie auf Krücken stützend hinterher. Ich gehörte zu den wenigen, die sich nicht zu diesem Wettlauf hinreißen ließen, mit dem zweiten Felix, Rebecca und ein paar anderen stiegen wir im Vergleich zu Christian fast gemächlich hinunter und wurden dabei tatsächlich von zwei Kindern überholt, die ihre Eltern weit hinter sich gelassen hatten und ohne Rucksäcke mühelos an uns vorbei zogen. Von den Eltern erfuhren wir später, dass sie den kompletten Weg von München nach Venedig liefen und das mit zwei Kindern, beide unter 10 Jahren.

Je tiefer wir in die Senke stiegen, desto wärmer wurde es. Viele kleine Bachläufe und das feuchte Gras erzeugten eine unangenehme Schwüle, die es allein durch Vorwärtskommen und seichte Gespräche auszuhalten galt. Aus der Ferne sahen wir, dass sich die von Josua angeführte Spitze an der tiefsten Stelle der Wiese, wo sich Weg und Bachlauf kreuzten, bereits niedergelassen hatte. Christian war etwas zurückgefallen, wie sich herausstellte, hatte er sich wohl etwas übernommen und spürte nun einen Schmerz am Bein.

Abkühlung Mit der Motivation, endlich zum Rest der Gruppe aufschließen zu können, quälten wir uns die letzten Meter zum Rastplatz, nur um zu sehen, dass die Ersten bereits wieder losliefen, als wir ankamen. Trotzdem genossen wir es, die Rucksäcke einen Moment ablegen zu können und die Hände ins kalte Quellwasser zu legen. Josua tauchte sogar seinen ganzen Kopf unter Wasser, ich dagegen begnügte mich damit, meine Trinklaschen aufzufüllen und mir vorzustellen, mit nackten Füßen durch das flache Bachbett zu waten.

Als wir zur letzten Etappe des Tages aufbrachen, waren Josua und die anderen bereits nicht mehr in Sichtweite. So viel zum Thema Gruppen-Zusammenhalt. Nun erst verließen wir endgültig das militärische Sperrgebiet und konnten ein letztes Mal über die vielen gelben Schilder lachen, die sich im Abstand von ein paar hundert Metern in einer Kette rund um das zuletzt durchquerte Gebiet zogen.

Nach wenigen Metern mündete unser brauner Pfad auf eine breite, sandige Schotterpiste. Der Rucksack zog mich mit seinen 16 Kilo stetig nach unten und verführte zum Stehenbleiben, doch das Ziel lag noch etwa 100 Höhenmeter über uns. Längst hatte ich mich aus den Gesprächen ausgeklinkt. Die wenigsten gingen noch nebeneinander her. Jeder hatte mit seiner eigenen Last und der Hitze zu kämpfen, dazu die Erschöpfung der vergangenen Tage und die 400 Höhenmeter abwärts, die keine Stunde zurücklagen. Die Straße war gefühlt so steil, dass man sich nach vorne lehnen musste, um nicht hinten über zu fallen. So bildete unsere Gruppe eine lange Schlange über eine Strecke von fast einem Kilometer, der Abstand zu meinem Vorder- und Hintermann war mal so groß, dass ich durch die engen Biegungen zwischen den tief grünen Hügeln niemanden mehr sehen konnte. Dann wieder überholte man sich gegenseitig und nickte sich im Vorbeigehen aufmunternd zu. Ich weiß noch, dass zum Zeitpunkt der Ankunft am Tuxerjochhaus ich am absoluten Tiefpunkt meiner Kräfte war. Ich zog die Schuhe aus und legte mich zu den anderen ins Gras. Da wir zu früh waren, mussten wir ohnehin noch mehrere Stunden warten, bis wir in unser Zimmer konnten. Das machte aber gar nichts. Die Rucksäcke stellten wir auf die überdachte Terrasse und wir konnten bereits Kuchen und Getränke bestellen. Als ich mich allerdings endlich dazu entschloss, ebenfalls etwas Geld auszugeben, war der Kuchen bereits aus.

Die Friesenbergscharte Die Aussicht vom Haus war mit Abstand die beste, die wir auf unserer Reise von allen Übernachtungsorten hatten. Noch unterhalb der hölzernen Terrasse fiel der Boden steil bergab in ein weites Tal, wo mehrere Straßen in ein kleines Dorf führten, der erste Asphalt, der erste Hauch Zivilisation, den wir seit Tagen zu Gesicht bekamen. Auf der anderen Seite türmte sich unmittelbar die lange Gipfelkette auf, auf welche wir seit drei Tagen zu marschierten. Besonders imposant der Tuxer Gletscher mit der links angrenzenden Friesen­berg­scharte, die wir am nächsten Tag überqueren sollten.

Da es keinen Gruppenrabatt aufs Essen gab, durften wir jeder etwas von der Karte bestellen. Zur Erinnerung: Unser Tagesbudget fürs Essen lag bei 7€ pro Person. Hier allerdings begannen die Preise pro Gericht bei 8,50€ etwa. Ich hatte etwas Mitleid mit Josua, dass es in seiner Verantwortung lag, mit dem Budget auszukommen und uns gleichzeitig satt zu kriegen, obwohl die hohen Preise vermutlich von Anfang an bekannt gewesen waren. Im Vertrauen auf die sättigende Wirkung von Käse bestellte ich Käsespätzle, die meisten anderen setzten auf ihren lang ersehnten Kaiserschmarren und wer ein Wiener Schnitzel mit Pommes wollte, musste selbst noch 1,50€ drauflegen. Serviert wurden Teller, die von der Größe den Kuchentellern enttäuschend ähnlich waren. Bei mir bedeutete das eine zirka ein Zentimeter hohe Schicht Spätzle-Käsemasse über eine Fläche von 10 mal 15 Zentimeter mit einem kleinen Häuflein Krautsalat. Glücklicherweise blieb bei den anderen viel übrig, da sie sich teilweise auf eigene Rechnung eine zweite Portion bestellt und untereinander nicht abgesprochen hatten und so wurde ich nach einer weiteren Pommes und anderthalb Portionen Kaiserschmarren ebenfalls satt.

Abends wurde wieder Werwolf gespielt, jemand entdeckte eine Spielesammlung und Sven und Felix begannen eine Schachpartie. Nach wie vor war mir das laute Gruppenspiel am Nachbartisch suspekt und Schach hatte schon immer eine große Anziehungskraft auf mich ausgeübt, also entschied ich mich dort zuzugucken. Christian setzte sich mir gegenüber und bald stellten wir beide fest, dass es besser gewesen wäre, die Rollen umzutauschen. Die beiden Schachspieler hatten wenig Ahnung von ihrem Spiel und so begannen Christian und ich irgendwann, Tipps zu geben. Ohne zu viel zu verraten, diskutierten wir die möglichen Züge, indem wir eine eher abstrakte Sprache verwendeten und die Spieler damit im Unklaren ließen. Das war einerseits witzig, andererseits hatten wir nicht so viel Spaß wie die Gruppe am Nebentisch. Am Ende gingen wir einigermaßen früh schlafen. Unser Zimmer bestand aus einer einzigen langen Reihe Matratzen, wobei jedoch nicht jeder eine eigene hatte. Die vielleicht 10 Meter lange Reihe war unterteilt in 14 Schlafplätze. Zwischenzeitlich war nicht klar, ob Josua und Réka, beziehungsweise zwei fremde Wanderer auf zwei Einzelbetten am Gang schlafen sollten. Einer der Fremden sprach uns auf die riesigen Rucksäcke an und wir erzählten von unserer Alpenüberquerung. Der Mann hatte nicht viel mehr als eine Trinkflasche und Wechselkleidung dabei, wodurch er auf ein Gesamtgepäck von 3kg kam. Er konnte nicht verstehen, dass wir mehr als das fünffache mit uns herumtrugen. Letztlich bekamen sowohl er und seine Partnerin als auch Josua und Réka ein anderes Zimmer zugewiesen und wir hatten das Zimmer für uns allein. Es wurde deutlich weniger Quatsch gemacht als an den Abenden in Gruppenzimmern zuvor und so schlief ich bald glücklich und zufrieden ein.



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